Die Perlenzüchterin
Taucherbrille, die Sauerstoffflaschen auf dem Rücken, Gewichte, Taschenlampe und ein Messer an seinem Gürtel befestigt, sah er für Sami aus wie ein Außerirdischer. Er spuckte in seine Taucherbrille, wusch sie im Meer aus, setzte sie auf und sah dann auf die klobige Uhr an seinem Handgelenk. »Beim ersten Tauchgang bleibe ich fünfunddreißig Minuten unten. Wir treiben, auch wenn ich einen leichten Anker geworfen habe. Siehst du, die Strömung verläuft in diese Richtung. Lass eine Hand auf meinem Seil, und wenn ich dreimal dran ziehe, musst du mich raufziehen – das bedeutet Schwierigkeiten.«
Sami nickte. »Keine Panik.«
Er ließ sich auf dem Schandeckel nieder, setzte das Mundstück ein, ließ sich nach hinten kippen und fiel mit einem Platschen ins Wasser. In einem ganzen Schwall Atembläschen verschwand er. Plötzlich war es sehr still.
Sami sah hinab in das leuchtend blaue Wasser. Ihr fielen die dramatischen Geschichten ein, die ihre Mutter, ihr Taucherfreund Chris und andere ihr erzählt hatten. Die Riesentintenfische, die Haie, die Riesenmuscheln, die Gefahren unter Wasser wirkten plötzlich sehr real. Sie wartete, die Hand auf dem Seil, das im Meer verschwand. Ihre Verbindung mit dem Mann tief unter ihr fühlte sich so schwach an, dass sie dem Drang widerstehen musste, das Seil – und damit auch ihn – festzuhalten und es nicht mehr durch die Finger gleiten zu lassen. Hin und wieder trieb eine Traube Luftbläschen still an die Oberfläche.
Sie trug keine Uhr und hatte sich im Anblick des stillen Ozeans verloren, sodass sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war. Als ihr das plötzlich klar wurde, spürte sie Panik in sich aufsteigen. Und im nächsten Augenblick zuckte das Seil in ihrer Hand dreimal! Sami keuchte laut auf und begann hektisch, das Seil hochzuziehen. Es war bleischwer, und sie kämpfte sich verzweifelt ab. »O nein! Was ist passiert?«, schrie sie.
Kurz darauf hämmerte es an die andere Schiffsseite. Sie schrie auf und hätte beinahe das Seil losgelassen. Doch als sie sich umsah, erblickte sie einen grinsenden Tim, der sich ans Schiff klammerte. »Lass nicht los«, rief er. »Ich schwimme rum zur Leiter.«
»Das war gemein, ich habe mich total erschrocken! Aber keine Sorge, meine Rache kommt schon noch! Also, was hängt am anderen Ende des Seils, wenn schon nicht du?«
Tim lachte. »Du wirst es nicht glauben. Es ist unwirklich. Mir wäre beinahe die Luft ausgegangen.«
»Ich fand auch, dass du lange weg warst. Was ist denn da unten?«, fragte sie. Sein Gesicht war gerötet, er wirkte aufgeregt.
»Ich war da unten und habe an nichts Böses gedacht, da taucht doch plötzlich dieser verdammt große Umriss vor mir auf.«
»Ein Hai.«
»Ein Wrack.«
»Ein Schiffswrack!«
»Genau, und noch ziemlich frisch. Sieht aus wie ein indonesisches Fischerboot.«
Sami beugte sich über die Reling und versuchte, im Wasser etwas zu erkennen.
»Es liegt ungefähr fünfzehn Meter tief. Ist beschädigt, der Rumpf ist geborsten. Die Ladung ist teilweise rausgetrieben, ein Haufen Holzkisten.«
»Also hast du eine ans Seil gebunden, und ich habe mich zu Tode erschreckt, weil ich dachte, du bist in Schwierigkeiten!«
»Stimmt. Hör zu. Sieh aufs GPS und zeichne ein, wo wir sind. Sonst finde ich die Stelle nie wieder.«
Sami schrieb ihre Position auf und ging dann rasch zu ihm. Gemeinsam zogen sie das Seil hoch und hievten die Kiste an Bord.
»Sieht ziemlich gewöhnlich aus«, fand Sami, »aber es hat etwas Geheimnisvolles. Das ist richtig aufregend.«
Mit seinem Tauchermesser löste Tim nach und nach die Bretter der Kiste. Drinnen fanden sie verrottendes Sackleinen, dann eine Segeltuchtasche. Tim hob sie heraus und riss das Segeltuch auf. Zum Vorschein kam eine kleine Bleitruhe mit einem seltsamen Vorhängeschloss. Das Schloss war lang und endete auf einer Seite in einem Halbkreis. »Da passt irgendein komischer Schlüssel rein. Tja, Pech, kein Schlüssel da. Also rohe Gewalt.«
Mit Werkzeug aus dem Maschinenraum bekam Tim das Schloss nach einer Weile auf. Dann ging er in die Hocke und sah zu Sami hoch. »Bereit?«
Sie grinste und nickte. »Bestimmt nur irgendwas total Idiotisches wie Autozubehör.«
»Warum dann abschließen?« Er stieß den Deckel auf.
Keiner von beiden war auf den Anblick vorbereitet, der sich ihnen unter einer Decke aus verrottendem Segeltuch darbot. Inmitten von Kartonfetzen lag ein Haufen glänzender Goldmünzen und Schmuck und blinkte geradezu obszön.
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