Die Pest (German Edition)
Ansonsten beschränkte man sich darauf, den Angehörigen zu empfehlen, ihre Gesundheit ärztlich überwachen zu lassen.
Doktor Rieux wandte sich abrupt von der Bekanntmachung ab und setzte den Weg in seine Praxis fort. Joseph Grand, der ihn erwartete, hob wieder die Arme, als er ihn kommen sah.
«Ja», sagte Rieux, «ich weiß, die Zahlen steigen.»
Am Tag zuvor waren etwa zehn Kranke in der Stadt gestorben. Der Arzt sagte zu Grand, dass er ihn vielleicht am Abend sehen werde, da er Cottard besuchen wolle.
«Sie haben recht», sagte Grand. «Das wird ihm guttun, ich finde ihn nämlich verändert.»
«Inwiefern?»
«Er ist höflich geworden.»
«War er das vorher nicht?»
Grand zögerte. Er könne nicht sagen, Cottard sei unhöflich gewesen, der Ausdruck treffe nicht zu. Er sei ein verschlossener, schweigsamer Mann, der ein wenig das Verhalten eines Keilers habe. Sein Zimmer, ein bescheidenes Restaurant und ziemlich geheimnisvolle Ausflüge, das sei Cottards ganzes Leben. Offiziell sei er Vertreter für Weine und Spirituosen. Ab und zu bekomme er Besuch von zwei oder drei Männern, die wohl Kunden waren. Abends gehe er manchmal in das Kino gegenüber. Der Angestellte hatte sogar bemerkt, dass Cottard sich mit Vorliebe Gangsterfilme anzusehen schien. Bei allen Anlässen bleibe der Vertreter ein misstrauischer Einzelgänger.
Das alles hatte sich Grand zufolge sehr geändert.
«Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber, wissen Sie, ich habe den Eindruck, als wolle er die Leute für sich gewinnen, als wolle er alle für sich einnehmen. Er redet oft mit mir, er schlägt mir vor, mit ihm auszugehen, und ich kann nicht immer ablehnen. Außerdem interessiert er mich, und schließlich habe ich ihm das Leben gerettet.»
Seit seinem Selbstmordversuch hatte Cottard keinen Besuch mehr bekommen. Auf der Straße, in den Geschäften buhlte er um die Sympathie aller. Nie hatte jemand so überaus freundlich mit den Lebensmittelhändlern gesprochen, so überaus interessiert einer Tabakwarenhändlerin zugehört.
«Diese Tabakwarenhändlerin ist eine richtige Giftschlange», bemerkte Grand. «Ich habe es Cottard gesagt, aber er hat mir geantwortet, ich würde mich täuschen, sie habe ihre guten Seiten, die man herauszufinden wissen müsse.»
Zwei- oder dreimal schließlich hatte Cottard Grand in die luxuriösen Restaurants und Cafés in der Stadt mitgenommen. Er hatte nämlich angefangen, dort zu verkehren.
«Man fühlt sich dort wohl», sagte er, «und außerdem ist man in guter Gesellschaft.»
Grand war die besondere Zuvorkommenheit des Personals gegenüber dem Vertreter aufgefallen, und er verstand den Grund dafür, als er die übertriebenen Trinkgelder bemerkte, die dieser gab. Cottard schien sehr empfänglich für die Liebenswürdigkeiten, mit denen er dafür bedacht wurde. Eines Tages, als der Oberkellner ihn zum Ausgang begleitet und ihm in den Mantel geholfen hatte, hatte Cottard zu Grand gesagt:
«Das ist ein netter Kerl, er kann es bezeugen.»
«Was bezeugen?»
Cottard hatte gezögert.
«Na ja, dass ich kein schlechter Mensch bin.»
Darüber hinaus hatte er Launen. Eines Tages, als der Lebensmittelhändler weniger liebenswürdig gewesen war, war er in einem Zustand maßloser Wut nach Haus gekommen:
«Er hält zu den andern, dieser Schuft», wiederholte er.
«Welchen andern?»
«Allen andern.»
Grand hatte sogar eine seltsame Szene bei der Tabakwarenhändlerin miterlebt. Mitten in einer angeregten Unterhaltung hatte sie eine Verhaftung erwähnt, die kürzlich in Algier Aufsehen erregt hatte. Es ging um einen jungen kaufmännischen Angestellten, der an einem Strand einen Araber umgebracht hatte.
«Wenn man dieses ganze Gesindel ins Gefängnis stecken würde, könnten die anständigen Leute aufatmen», sagte die Händlerin.
Aber sie hatte sich angesichts von Cottards plötzlicher Erregung unterbrechen müssen, der ohne ein Wort der Entschuldigung aus dem Laden gestürmt war. Grand und die Händlerin hatten seiner Flucht hilflos zugesehen.
In der Folge sollte Grand Rieux noch auf weitere Veränderungen in Cottards Charakter hinweisen. Dieser hatte immer sehr liberale Ansichten gehabt. Sein Lieblingssatz «Die Großen fressen immer die Kleinen» bewies es ja. Aber seit einiger Zeit kaufte er nur noch die linientreue Zeitung von Oran, und man konnte sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, er lese sie geradezu ostentativ an öffentlichen Orten. Ebenso hatte er ein paar Tage nachdem er wieder aufgestanden
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