Die Pest (German Edition)
wohlriechende Summen der Freiheit herbei, das nach und nach die von einer lärmenden Jugend bevölkerte Straße erfüllte. Die Nacht, das laute Heulen der unsichtbaren Schiffe, das Tosen, das vom Meer und von der sich verlaufenden Menge aufstieg, diese Stunde, die Rieux gut kannte und früher liebte, erschien ihm heute wegen all dem, was er wusste, bedrückend.
«Können wir Licht machen?», sagte er zu Cottard.
Als es wieder hell war, sah ihn der kleine Mann blinzelnd an.
«Sagen Sie, Herr Doktor, wenn ich krank würde, würden Sie mich dann in Ihrer Abteilung im Krankenhaus aufnehmen?»
«Warum nicht?»
Darauf fragte Cottard, ob es vorgekommen sei, dass man jemanden verhaftet hatte, der in einer Klinik oder in einem Krankenhaus lag. Rieux antwortete, das habe es schon gegeben, aber alles hänge vom Zustand des Kranken ab.
«Ich habe Vertrauen zu Ihnen», sagte Cottard.
Dann fragte er den Arzt, ob er ihn wohl in seinem Auto in die Stadt mitnehmen würde.
Im Stadtzentrum waren die Straßen schon weniger belebt und die Lichter seltener. Kinder spielten noch vor der Tür. Auf Cottards Bitte hielt der Arzt vor einer solchen Gruppe Kinder an. Sie spielten kreischend Himmel und Hölle. Aber eines, mit dichtanliegendem, tadellos gescheiteltem schwarzem Haar und schmutzigem Gesicht, starrte Rieux mit seinen hellen, einschüchternden Augen an. Der Arzt wandte den Blick ab. Cottard stand schon auf dem Bürgersteig und schüttelte ihm die Hand. Der Vertreter sprach heiser und mühsam. Zwei- oder dreimal schaute er sich um.
«Die Leute reden von einer Epidemie. Stimmt das, Herr Doktor?»
«Die Leute reden immer, das ist normal», sagte Rieux.
«Sie haben recht. Und wenn wir ein Dutzend Tote haben, ist es das Ende der Welt. Das können wir nicht brauchen.»
Der Motor brummte schon. Rieux’ Hand lag auf dem Schalthebel. Aber er sah wieder das Kind an, das ihn die ganze Zeit ernst und ruhig gemustert hatte. Und plötzlich, ohne Übergang, lächelte ihn das Kind strahlend an.
«Was brauchen wir denn?», fragte der Arzt und lächelte zurück.
Cottard umklammerte plötzlich die Wagentür und schrie, bevor er davonrannte, mit tränen- und wuterstickter Stimme:
«Ein Erdbeben. Ein richtiges!»
Es gab kein Erdbeben, und der folgende Tag verlief für Rieux nur mit langen Besuchen an allen Enden der Stadt, Besprechungen mit den Familien von Kranken und Diskussionen mit den Kranken selbst. Nie hatte Rieux seinen Beruf als so belastend empfunden. Bisher hatten ihm die Kranken die Aufgabe erleichtert, hatten sich ihm anvertraut. Zum ersten Mal spürte der Arzt, dass sie zurückhaltend waren, mit einer Art misstrauischem Erstaunen in ihre Krankheit verkrochen. Das war ein Kampf, den er noch nicht gewohnt war. Und als Rieux gegen zehn Uhr abends in seinem Wagen vor dem Haus des alten Asthmatikers hielt, den er als Letzten besuchte, fiel es ihm schwer, sich von seinem Sitz loszureißen. Er blieb eine Weile sitzen und betrachtete die finstere Straße und die Sterne, die am dunklen Himmel aufleuchteten und verschwanden.
Der alte Asthmatiker saß aufrecht im Bett. Er schien leichter zu atmen und zählte die Kichererbsen, die er von einem Topf in den anderen füllte. Fröhlich begrüßte er den Arzt.
«Nun, Herr Doktor, ist es die Cholera?»
«Woher haben Sie das denn?»
«Aus der Zeitung, und im Radio wurde es auch gesagt.»
«Nein, es ist nicht die Cholera.»
«Jedenfalls nehmen sie den Mund voll, die großen Tiere!», sagte der Alte übertrieben erregt.
«Glauben Sie ja nichts», sagte der Arzt.
Er hatte den Alten untersucht und saß jetzt mitten in diesem ärmlichen Esszimmer. Ja, er hatte Angst. Er wusste, dass ihn am nächsten Morgen in ebendieser Vorstadt ein Dutzend über ihren Beulen zusammengekrümmte Kranke erwarten würden. Nur in zwei oder drei Fällen hatte das Aufschneiden der Geschwulste eine Besserung herbeigeführt. Aber für die meisten würde es das Krankenhaus bedeuten, und er wusste, was das Krankenhaus für die Armen hieß. «Ich will nicht, dass sie ihn für ihre Experimente benutzen», hatte ihm die Frau eines Kranken gesagt. Er würde nicht für ihre Experimente benutzt werden, er würde sterben und sonst nichts. Die verfügten Maßnahmen waren unzureichend, das war ganz klar. Und was die «speziell ausgerüsteten» Säle anging, so kannte er sie: zwei Bungalows, aus denen man in aller Eile die anderen Kranken verlegt hatte, deren Fenster man abgedichtet und um die man eine Sicherheitssperre gelegt
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