Die Pest (German Edition)
gehalten.»
Der Alte lachte röchelnd.
«Ich höre sie jetzt schon: ‹Unsere Toten …›, und dann gehen sie zum Essen.»
Rieux stieg schon die Treppe hinauf. Der weite kalte Himmel funkelte über den Häusern, und bei den Hügeln wurden die Sterne hart wie Feuersteine. Diese Nacht war nicht sehr anders als die, in der Tarrou und er auf diese Terrasse gekommen waren, um die Pest zu vergessen. Nur das Meer unten an den Klippen war lauter als damals. Die Luft war unbeweglich und leicht, frei von den Salzgerüchen, die der Herbstwind herbeitrug. Doch das Tosen der Stadt brandete noch immer wie Wellen gegen den Fuß der Terrassen. Aber dies war die Nacht der Befreiung und nicht die der Revolte. In der Ferne zeigte ein rötliches Dunkel die Lage der Boulevards und der erleuchteten Plätze an. In der nun erlösten Nacht sprengte das Verlangen alle Fesseln, und es war sein Brausen, das bis zu Rieux drang.
Vom dunklen Hafen stiegen die ersten Raketen des offiziellen Freudenfestes auf. Die Stadt begrüßte sie mit einem langen, gedämpften Schrei. Cottard, Tarrou, die beiden und die eine, die Rieux geliebt und verloren hatte, waren vergessen. Der Alte hatte recht, die Menschen waren immer gleich. Aber das war ihre Kraft und ihre Unschuld, und hierin fühlte Rieux, dass er sich ihnen über allen Schmerz hinweg anschloss. Damals, inmitten der Schreie, die umso lauter und anhaltender wurden und lange am Fuß der Terrasse widerhallten, je mehr bunte Garben sich in den Himmel erhoben, beschloss Doktor Rieux, den hier endenden Bericht zu schreiben, um nicht zu denen zu gehören, die schweigen, und um für diese Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war, und um einfach zu sagen, was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.
Aber er wusste dennoch, dass diese Chronik nicht die des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was vollbracht werden musste und was ohne Zweifel noch alle Menschen vollbringen müssten, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen den Schrecken und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die zwar keine Heiligen sein können und die Plagen nicht zulassen wollen, sich aber bemühen, Ärzte zu sein.
Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.
Informationen zum Buch
«Camus irrt sich nicht in seinem Roman. Das Drama sind nicht die, die durch die Hintertür zum Friedhof entwischten – und für die die Angst vor der Pest endlich vorbei war –, sondern die Lebenden, die in ihren stickigen Schlafzimmern Blut schwitzten, ohne der belagerten Stadt entfliehen zu können.» (Gabriel García Márquez)
Die Stadt Oran wird von rätselhaften Ereignissen heimgesucht. Die Ratten kommen aus den Kanälen und verenden auf den Straßen. Kurze Zeit später sterben die ersten Menschen an einem heimtückischen Fieber: Die Pest wütet in der Stadt. Oran wird hermetisch abgeriegelt. Ein Entkommen ist nicht möglich. Albert Camus’ erfolgreichster Roman gehört zu den Klassikern der Weltliteratur. In ihm seziert er hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht einer Katastrophe.
Informationen zum Autor
Albert Camus, geboren am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi (Algerien), studierte von 1933 bis 1936 an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei, brach jedoch drei Jahre später mit der KP. 1940 zog er nach Paris. 1942 erschienen mit seinem Roman «Der Fremde» und dem Essay «Der Mythos des Sisyphos» die Werke, die Camus’ literarisches Ansehen begründeten. 1957 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb Camus bei einem Autounfall.
Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.
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Der
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