Die Pest (German Edition)
war, Grand, der zur Post ging, gebeten, freundlicherweise hundert Francs für ihn zu überweisen, die er jeden Monat einer entfernt wohnenden Schwester schickte. Aber als Grand gehen wollte, bat Cottard:
«Schicken Sie ihr zweihundert Francs, das wird eine schöne Überraschung für sie. Sie meint, ich dächte nie an sie. Aber in Wirklichkeit liebe ich sie sehr.»
Schließlich hatte er mit Grand ein seltsames Gespräch geführt. Grand hatte Cottards Fragen beantworten müssen, den die kleine Arbeit neugierig gemacht hatte, der sich Grand allabendlich widmete.
«Also, Sie schreiben ein Buch», hatte Cottard gesagt.
«Wenn Sie so wollen, aber die Sache ist noch komplizierter!»
«Ach!», hatte Cottard ausgerufen. «Das würde ich auch gern machen.»
Grand hatte überrascht gewirkt, und Cottard hatte gestottert, Künstler zu sein müsse doch vieles leichter machen.
«Wieso?», hatte Grand gefragt.
«Na ja, weil ein Künstler mehr Rechte hat als andere, das weiß doch jeder. Man lässt ihm mehr durchgehen.»
«Ach wo», sagte Rieux an dem Morgen mit den Bekanntmachungen zu Grand. «Die Geschichte mit den Ratten hat ihm wie vielen anderen den Kopf verdreht, das ist alles. Oder er hat Angst vor dem Fieber.»
Grand antwortete:
«Das glaube ich nicht, Herr Doktor, und wenn Sie meine Meinung hören wollen …»
Der Rattenvernichtungswagen fuhr mit laut knatterndem Auspuff unter ihrem Fenster vorbei. Rieux schwieg, bis es wieder möglich war, sich zu verständigen, und fragte zerstreut nach der Meinung des Angestellten. Der sah ihn ernst an.
«Er ist ein Mensch, der sich etwas vorzuwerfen hat.»
Der Arzt zuckte die Achseln. Wie der Kommissar sagte, es gab Wichtigeres zu tun.
Nachmittags hatte Rieux eine Besprechung mit Castel. Der Impfstoff kam nicht.
«Würde er überhaupt etwas nutzen?», fragte Rieux. «Dieser Bazillus ist eigenartig.»
«Oh, da bin ich nicht Ihrer Meinung!», sagte Castel. «Diese Viecher scheinen immer etwas Ausgefallenes zu sein. Aber im Grunde ist es doch dasselbe.»
«Das vermuten Sie wenigstens. Tatsächlich wissen wir nichts darüber.»
«Natürlich vermute ich es. Aber so geht es doch allen.»
Den ganzen Tag über spürte der Arzt den leisen Schwindel zunehmen, der ihn jedes Mal befiel, wenn er an die Pest dachte. Schließlich erkannte er, dass er Angst hatte. Er ging zweimal in voll besetzte Cafés. Auch er verspürte wie Cottard ein Bedürfnis nach menschlicher Wärme. Rieux fand das dumm, aber es erinnerte ihn daran, dass er dem Vertreter einen Besuch versprochen hatte.
Am Abend traf der Arzt Cottard am Tisch seines Esszimmers an. Als er eintrat, lag ein Kriminalroman aufgeschlagen auf dem Tisch. Aber es war schon spät am Abend, und es musste bestimmt schwierig sein, in der eintretenden Dunkelheit zu lesen. Cottard hatte eine Minute zuvor wohl eher dagesessen und im Halbdunkel nachgedacht. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Cottard brummte, während er sich setzte, es gehe ihm gut und es würde ihm noch bessergehen, wenn er sicher sein könnte, dass niemand sich mit ihm beschäftigte. Rieux gab zu bedenken, dass man nicht immer allein sein könne.
«Oh, das meine ich nicht! Ich spreche von den Leuten, die sich damit beschäftigen, einem Ärger zu bereiten.»
Rieux schwieg.
«Das ist wohlverstanden bei mir nicht der Fall. Aber ich habe diesen Roman gelesen. Da geht es um einen Unglücklichen, der eines Morgens auf einmal verhaftet wird. Man beschäftigte sich mit ihm, und er hatte keine Ahnung davon. Man sprach in Büros von ihm, man trug seinen Namen auf Karteikarten ein. Finden Sie das richtig? Finden Sie, man hat das Recht, einem Menschen das anzutun?»
«Das kommt darauf an», sagte Rieux. «In gewisser Hinsicht hat man tatsächlich nie das Recht dazu. Aber das alles ist nebensächlich. Sie dürfen nicht zu lange eingeschlossen bleiben. Sie müssen ausgehen.»
Cottard schien nervös zu werden und sagte, er tue ja nichts anderes, und wenn nötig, könnte das ganze Viertel für ihn aussagen. Sogar außerhalb des Viertels fehle es ihm nicht an Beziehungen.
«Kennen Sie Monsieur Rigaud, den Architekten? Er ist ein Freund von mir.»
Die Dunkelheit im Zimmer nahm zu. Die Vorstadtstraße belebte sich, und ein dumpfer erleichterter Ausruf begrüßte draußen das Angehen der Lampen. Rieux ging auf den Balkon, und Cottard folgte ihm. Wie jeden Abend in unserer Stadt trug eine leichte Brise aus allen umliegenden Vierteln Gemurmel, Bratengeruch, das fröhliche und
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