Die Pest Zu London
Arbeiter und Tagelöhner werden gekündigt, die Besitzlosen vor das Nichts geworfen – setzen ein. Ein jeder muß sehen, wo er bleibt, aus einer friedlichen Idylle wird ein Hexenkessel mit allen Erscheinungen der Massenhysterie. Im Zeitalter des Puritanismus zeigt sich, daß innere Einkehr und Gottvertrauen nur wenigen gegeben ist und daß wie eh und je Geschäftemacherei mit Angst und Aberglauben, mit Unkenntnis und Hoffnung, daß exzessive Hingabe an Äußerlichkeiten weit mehr zutage treten. Diese Erscheinungen sind bis heute gleich geblieben, nur die äußeren Anlässe haben sich geändert.
Defoes Schilderung der Pest zu London galt vom Augenblick des Erscheinens 1722 etwa zwei Jahrhunderte lang als Augenzeugenbericht, in der medizinischen Forschung sogar als wichtigste Quelle für diese Epidemie. Erst die moderne Literaturwissenschaft zweifelte an der unmittelbaren Authentizität, als man nach dem Geburtsjahr dieses Begründers der Kunstform des realistischen Romans forschte.
1660 oder 1661 zu London war er geboren worden, genaueres fand man nicht. Im »Journal of the Plague Year« berichtet er jedoch als erwachsener und urteilsfähiger Mann in reiferen Jahren – konnte er auf Erinnerungen als vier- oder fünfjähriges Kind zurückgreifen?
Daniel Foe, der sich auch D. Foe, De Foe oder Defoe nannte, war im Alter von 35 Jahren königlicher Lotterie-Einnehmer. Eine wechselvolle Laufbahn als Kaufmann führte ihn auf Reisen vermutlich durch weite Gebiete Europas, vielleicht auch bis Nordafrika und Kleinasien. 1701 erlebte er, der vom Wohlleben des reichen Kaufmanns bis zur Schande des Bankrotteurs bereits alles erfahren hatte, einen ersten Erfolg als Schriftsteller. Die satirischen Knittelverse »The True-Born Englishman« brachten ihm Anerkennung, aber auch Verfolgung ein, das 1702 erschienene Werk »The Shortest Way with the Dissenters« dreimal an den Pranger und ins Gefängnis. Der wechselvolle Lebenslauf war damit noch nicht zu Ende.
Im Zeitalter des Puritanismus war freudvolle Unterhaltung verpönt, an ihre Stelle hatte Erbauung zu treten. Die bekanntesten Werke Defoes zeigen es, auch seine größten: »The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner« und »The Fortunes and Misfortunes of the Famous Moll Flanders«. Beide sind – wie all seine Schriften – belehrend und erbaulich, aufgelockert durch großartige erzählende Abschnitte, die seinen Ruhm festigten. 1722, im Erscheinungsjahr des »Journal of the Plague Year« war sein Ruf bereits fest begründet, seine Jahre als politischer Journalist unter wechselnden parteipolitischen Vorzeichen bereits Vergangenheit. Trotzdem – oder besser: deshalb – erschien das »Journal« unter sorgsam gewahrter Anonymität.
Äußerer Anlaß für das Erscheinen waren Meldungen einer neuerlichen Pestepidemie, die 1720/21 von Marseille ausgehend über Amsterdam 1722 auch London zu erreichen drohte. Im März 1722 ließ Defoe das »Journal« erscheinen, vor den Sommermonaten, die jeweils die Höhepunkte der Epidemien waren. Interesse und Verkaufsmöglichkeiten waren somit am größten – alles wohlberechnet.
Wohlberechnet? Man glaubt es nicht bei der Lektüre der »Pest zu London«. Zu tief ist die Betroffenheit Defoes über die Ereignisse von 1665, zu tief sein Blick in die Massengräber, in die Leichengruben. Man kennt einen Teil der Quellen, die der Autor zu seinen Schilderungen benützte, man kann daraus ersehen, daß er jahrelang Material – auch mündliche Überlieferungen – gesammelt hat. Es ist unwahrscheinlich, daß sich das äußerst umfangreiche Material erst im Moment der Niederschrift zu dieser großangelegten Gesamtschau der Ereignisse des Sommers 1665 geformt hat, auch bei aller Berücksichtigung der Schnelligkeit des Schreibens und der intuitiven Nervosität der Gedankenführung, die aus dem »Journal« spricht. Der Druck des Unheimlichen, Heimtückischen, Unbegreiflichen, das er als Kind, um nicht zu sagen, fast als Kleinkind, erlebt und erkannt hatte, hat ihn wohl sein ganzes Leben nicht verlassen. Ein äußerer Anlaß hat dann die Ausformung des im Innern bereits Verarbeiteten verursacht. Wohldurchdachter Aufbau, Verweise auf Späteres, Rückgriffe auf bereits Vorgetragenes, Unterbrechungen und Wiederaufnehmen von Gedankensträngen heben das Werk weit über den Journalismus hinaus. Die Anschaulichkeit des Erzählens beginnt bereits am Anfang beim Pesttod der beiden Franzosen in ihrem Logis »Long Acre, oder richtiger
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