Die Pestärztin
nachzudenken. Ihre Brüste spannten, ihr Rücken schmerzte. Was, wenn sie schwanger war? Dann würde niemand sie als Magd einstellen, und von dem Geld von Pias Verkauf würde sie auch höchstens ein paar Monate leben können. Als Mitglied der Familie Levin wäre sie dagegen geschützt. Sie würde als Bürgerin leben können, sich ordentlich kleiden ... mit einem Schlag wäre sie alle Sorgen los und würde Leas Onkel obendrein glücklich machen.
Natürlich wäre es eine gewaltige Lüge. Doch Lea hätte sie nicht dafür verdammt! Für Lea war sie immer eine Schwester gewesen; sie hätte sie sogar mit ihrem Bruder verheiratet. Wenn sie nun ihre Stelle einnahm ...
»Und denk dir, Lea, du bist nicht einmal mittellos!«, erklärte Zacharias Levin gerade und erregte damit Lucias Aufmerksamkeit. Die beiden kamen dem Judenviertel jetzt näher. In Landshut lebten die Juden gänzlich abgeschieden von den Christen, doch ihre Häuser standen denen der anderen Bürger der Stadt in Größe und Ausstattung kaum nach. Fast alle waren aus Stein errichtet. Der Brand musste also auch hier gewütet haben. »Ich schulde deinem Vater noch Geld - wir hatten gemeinsam in eine Ladung Seide aus Al Mariya investiert, und das Schiff ist nun endlich eingetroffen. Abraham von Kahlbach, ein guter Freund der Familie, hat die Reise nach Al Andalus unternommen und für uns eingekauft. Als Benjamins Erbin steht dir rechtmäßig ein Drittel des Erlöses zu. Kein Vermögen, aber doch genug für einen Neuanfang.«
Lucia fragte sich, was er mit einem Neuanfang meinte. Ein Geschäft? Oder eine neue Ehe? Wahrscheinlich Letzteres. Aber damit konnte sie sich jetzt nicht befassen. Sie musste eine Entscheidung treffen ... Die Kälte in ihrem Innern kalkulierte das Risiko. Was konnte schlimmstenfalls passieren, wenn sie sich als Lea ausgab?
Ich wäre eine Lügnerin und auf ewig verdammt, murmelte das Gefühl in ihr, doch ihr Verstand sagte, dass wahrscheinlich gar nichts geschehen würde. Zacharias Levin hatte Lea vor zwei Jahren kurz gesehen. Aber er hatte sie nicht wiedererkannt; er war kurzsichtig, und blonde Mädchen sahen für ihn alle gleich aus. Andere Mitglieder der Familie hatte Lea nicht erwähnt. Zacharias war damals allein nach Mainz gekommen, um die Ehe seiner Tochter mit Esra von Speyer zu arrangieren. Und die Speyers waren tot. Niemand würde Lucia erkennen. Und sie würde sich auch sonst nicht verraten. Jüdische Sitten, selbst die Sabbatgebete und die Rituale zum Pessach-, Baumhütten- und Lichterfest waren ihr geläufig. Ja, sie konnte sogar Anekdoten aus Leas Kindheit erzählen, war sie doch lange genug fast als Leas Zwilling durchgegangen. Dies hier war Lucias Chance auf ein besseres Leben. Und sie würde sie nutzen!
»Du bist sehr lieb, Onkel Zacharias«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll ...«
Zu Zacharias Levin gehörten seine Frau, ein bereits verheirateter Sohn und eine jüngere Tochter. Daphne war ein Nachkömmling und erst zehn Jahre alt. Lucia mochte sie sofort und hatte gleich ein besseres Gefühl, als sie das Kind im Haus kennen lernte. Hier konnte sie sich nützlich machen! Sie würde Daphne gern in Latein, Griechisch und Arabisch unterrichten, wenn die Levins es wollten. Vorerst wollte Hannah Levin aber nichts davon hören, dass Lucia sich im Haushalt betätigte.
»Erhol dich erst mal, Kind!«, erklärte sie und arrangierte als Erstes einen Besuch im jüdischen Badehaus für Frauen. Das gab es natürlich auch in Landshut; die Juden hielten überall auf Sauberkeit und besuchten mindestens einmal in der Woche, vor dem Sabbat, das Bad. So aalte sich auch Lucia nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft im warmen Wasser und nutzte die Zeit, um sich die Geschichte ihrer - nein, Leas! - Flucht auszudenken.
Die erzählte sie dann abends am Feuer in der Wohnstube der Levins, die mit schweren Eichenmöbeln kostbar eingerichtet war. Der verspielte maurische Stil in den Räumen der Speyers hatte Lucia zwar besser gefallen, aber sie hatte sich lange nicht so wohl gefühlt wie jetzt in der heimeligen Atmosphäre dieses Hauses, in dem vieles sie an ihre Kindheit erinnerte. Die Mesusa an der Tür, der siebenarmige Leuchter, die koschere Küche ... Nein, es würde ihr nicht schwerfallen, sich als Jüdin auszugeben. Im Gegenteil: Sie fühlte sich, als hätte sie nach langer Irrfahrt endlich heimgefunden.
Die Levins verhielten sich sehr taktvoll. Sie zwangen die junge Frau nicht zum Reden, konnten sie sich doch
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