Die Pestärztin
leise. »Armes, armes Kind ...«
Lucia war froh, dass Leas Tante es so aufnahm und ihr zumindest keine Vorwürfe machte. Sie war sich jetzt fast sicher, dass sie tatsächlich schwanger war. Im Badehaus hatte sie sich nackt gesehen und feststellen können, wie viel größer ihre Brüste waren. Ihr Bauch war zwar noch flach, erschien ihr aber härter als sonst, und nach wie vor trat die Periode nicht ein.
Wenn das Kind doch von Clemens wäre! Lucia schob den Gedanken, Martins oder Bertholds Samen könne sich in ihr verwurzelt haben, energisch von sich.
»Jetzt bist du jedenfalls bei uns«, erklärte Zacharias schließlich ermutigend. »Fühl dich wie zu Hause. Für uns wirst du immer eine Tochter sein!«
Tatsächlich fiel es Lucia überaus leicht, sich in den Haushalt der Levins einzugliedern. Der Tagesablauf war hier ähnlich wie bei den Speyers; der Sabbat wurde genau so gefeiert, lediglich die Besuche in der Synagoge waren Lucia neu. Am ersten Sabbat war sie folglich ein wenig nervös, tröstete sich aber damit, dass auch Lea in der christlichen Kirche zurechtgekommen war, als sie Lucia ein Alibi für ihre Ausflüge mit David verschaffte. Und tatsächlich bot der jüdische Gottesdienst für Frauen fast noch weniger zu tun als der christliche. Man begab sich auf eine abgeschiedene Empore, um zuzuhören und zu beten. Auch das meist still, und Lucia half sich ohnehin darüber hinweg, indem sie während des gesamten Gottesdienstes leise weinte. Die anderen Frauen fanden das gänzlich normal angesichts ihrer Erfahrungen in den letzten Wochen und nahmen sie liebevoll auf. Zu ihrem Kreis fand sie leicht Zugang. Fast jede hatte schon Verwandte durch christliche Verfolgungen verloren. Sie waren bereit, Geduld mit Lea zu haben und sie in ihrer Trauer zu unterstützen.
Sehr bald trafen auch Geschenke für sie ein. Man organisierte eine Trauerfeier für ihre Eltern, und zehn Männer ihrer neuen Gemeinde saßen Kaddisch für die Speyers.
Lucia wunderte sich selbst darüber, empfand sich jedoch nicht als Betrügerin. Gut, sie trauerte nicht um Juda, sondern um Clemens, und sie hatte keine Schwägerin verloren, sondern eine geliebte Pflegeschwester. An die Speyers dachte sie zwar nicht mehr als ihre Ersatzeltern, seit man sie so rüde aus dem Haus verdammt hatte, doch ihr Tod ging ihr nahe; außerdem konnte sie hier endlich ausgiebig um Al Shifa weinen und trauern.
Schließlich bat Zacharias Levin Lucia in sein Kontor, wo bereits ein großer, schwerer Mann mittleren Alters auf sie wartete. Levin stellte ihn als Abraham von Kahlbach vor.
»Reb Abraham hat unsere Warenlieferung von Al Mariya aus begleitet, Kind, und auch den Weiterverkauf übernommen. Du weißt ja, ich betreibe nur gelegentlich Fernhandel ...«
Die Levins hatten eine gutgehende Pfandleihe vor Ort, die selbst von wohlhabenden und adeligen Familien aufgesucht wurde, wenn schnell Geld gebraucht wurde. Zacharias galt als verschwiegen und hatte einen guten Ruf als ehrlicher Händler. Er pflegte die Preise selbst bei Kunden nicht zu drücken, die offensichtlich in Schwierigkeiten steckten. Nach ihren eigenen Erfahrungen in Rüsselsheim wusste Lucia das zu schätzen!
Fernhandel und die damit verbundenen Reisen lagen Zacharias weniger. Er hatte von jeher schlechte Augen, was ihm die Orientierung in der Fremde erschwerte. In der Pfandleihe benutzte er schwere Vergrößerungsgläser, um die Waren taxieren zu können, doch auf Reisen brauchte man klare Sicht und gute Reflexe. Gerade die Juden waren ständigen Gefahren ausgesetzt, und wer halb blind das Schwert schwang, lebte nicht lange. Zacharias hatte sich deshalb schon früh darauf beschränkt, seine Geschäfte von Landshut aus zu führen. Er investierte in Fernhandel, reiste aber nicht selbst. Abraham von Kahlbach schien dabei einer der Männer zu sein, denen er sein Geld gern anvertraute.
Der dunkelhaarige und trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner kräftigen Figur noch äußerst geschmeidige Mann verbeugte sich vor Lucia.
»Frau Lea, ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Auch wenn ich mir günstigere Umstände dafür wünschte ...«
Von Kahlbach trug sein Haar lang; sein Bart und seine Schläfenlocken sprossen üppig. Lucia konnte seine Gesichtszüge deshalb kaum erkennen, bemerkte jedoch, wie seine braungrünen Augen sie prüfend musterten. Kahlbachs Gesicht wirkte eher dunkel und südländisch geprägt; vielleicht war es aber auch nur gebräunt nach vielen Jahren der Reisen im
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