Die Pestärztin
vorstellen, was sie durchgemacht hatte. Den Landshuter Juden waren Pogrome durchaus nicht fremd. Erst im letzten Jahr waren einige der ihren getötet worden.
»Es ging mal wieder um eine Brunnenvergiftung«, seufzte Hannah Levin, deren Vetter unter den Toten war. »Sie machten uns für das Einschleppen der Pest verantwortlich ...«
»Die Pest?« Lucia fuhr auf. »Aber die wütet hier doch gar nicht, oder?« Das konnte nicht sein! Sie wollte nicht wieder von dem schrecklichen Albtraum geplagt werden, aus dem sie sich gerade erst befreit hatte.
»Nein, nein ...« Hannah Levin streichelte ihr beruhigend über die Hände und füllte ihren Becher ein zweites Mal mit Wein. »Es gab nur ein paar Fälle, von denen niemand genau wusste, was es war. Aber das Volk ist rasch aufgehetzt, wie du selbst ja nur zu gut weißt. Willst du uns nicht von Mainz erzählen, Lea? So schmerzlich es ist, ich wüsste gern mehr von den letzten Stunden meiner Rebecca. Ich hatte mich so sicher gefühlt, als ich sie ins Rheinland verheiratete. In Mainz, so hieß es, ständen die Juden unter dem Schutz des Bischofs, es gäbe kein abgeschlossenes Judenviertel.« Das Ghetto von Landshut, so hatte Lucia soeben erfahren, wurde nachts durch Ketten verschlossen! »Und nun das ...«
Hannah Levin liefen Tränen übers Gesicht. Sie fühlte sich heute nicht nur durch Leas glückliche Rettung an ihre Tochter erinnert. Nach der Ankunft ihrer Nichte hatte sie auch erstmalig wieder deren Schränke und Truhen geöffnet, um nach ein paar Kleidern zu suchen, die Lea vielleicht passten. Nun saß das blonde Mädchen in einem Kleid vor ihr, das sie einst selbst für ihre zarte, dunkelhaarige Tochter geschneidert hatte ... Hannah würde in den nächsten Tagen noch viele Tränen vergießen.
Lucia erzählte also und blieb dabei so nah wie möglich an der Wahrheit. Ihre Erlebnisse waren schlimm genug; da musste sie sich nicht noch Einzelheiten rund um Rebeccas und Sarahs Tod ausdenken. So verlegte sie nur die Geburt von Leas Baby eine Woche vor und behauptete, ihr Sohn habe in den Tagen vor dem Pogrom an schweren Blähungen gelitten. Schließlich habe sie sich entschlossen, ihre alte Freundin Lucia aufzusuchen, die heilkundig war und ihr bestimmt einen Tee für das Kind empfehlen konnte. Darüber wäre es zu einem Streit mit ihrer Mutter gekommen. Sarah Speyer hätte nicht gewollt, dass Lea das Judenviertel verließ und obendrein eine christliche Hebamme aufsuchte. Lucia wusste nicht, inwieweit die Levins womöglich über die Geschichte zwischen ihr und David informiert waren. Vielleicht wussten sie, dass das Pflegekind der Speyers in Sarahs Augen schwer gesündigt hatte. Aber immerhin fiel es ihr nicht schwer, bei dem Gedanken an eine Auseinandersetzung mit Sarah Speyer zu weinen. Auch ihre Beziehung zu ihrer einstigen Pflegemutter war ja im Streit geendet, und es hing ihr bis heute nach, dass Sarah ihr nicht geglaubt hatte.
Die Levins warteten verständnisvoll ab, bis »Leas« Schluchzer verebbten.
»Ich werde mir nie verzeihen, dass ich sie im Streit verlassen habe«, flüsterte Lucia. »Aber ich war verärgert und trotzig, und so rannte ich schließlich aus dem Haus - ohne Mantel, es war ja warm, und in Hauskleidern, die mich nicht als Jüdin auswiesen.«
Die Levins musterten sie beinahe vorwurfsvoll. Ein Verstoß gegen die Kleidervorschriften schien hier ein viel schlimmeres Vergehen zu sein, als im verhältnismäßig liberalen Mainz.
»Jedenfalls gelangte ich zu meiner Freundin und plauderte ein wenig mit ihr, bis es draußen zu Ausschreitungen kam. Die Geißler und Judenschläger bezichtigten Lucia der Hexerei. Ich wollte dann nach Hause gehen und geriet in einen Mob, der zum Judenviertel stürmte ...«
Der Rest der Geschichte stimmte vollends mit Lucias eigenen Erlebnissen überein. Nur die Sache mit dem Leuchter ließ sie aus. Wenn die Levins sich überhaupt Gedanken darüber machten, wovon Lea auf der Flucht gelebt hatte, würden sie annehmen, sie hätte Geld bei sich gehabt, als sie die christliche Hebamme aufsuchte. Die wollte schließlich entlohnt werden ...
»Du hast sie also nicht sterben sehen?«, fragte Zacharias Levin erstickt. »Rebecca ... und Esra ...«
»Ich sah Esra tot auf der Straße ... und meinen Vater. Von Rebecca und Mutter hörte ich nur von einem kleinen Reitknecht.«
Lucia erzählte von ihrer Flucht mit Leas Maultier, deutete den Vorfall am Fischtor allerdings nur an. Hannah Levin verstand trotzdem.
»Armes Kind!«, sagte sie
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