Die Pestglocke
führen. Könntest du dich einfach eine Stunde lang um ihn kümmern, bis ich die Bande los bin?«
»Klar«, sagte ich. Ich sperrte ab und ging zurück in die Bibliothek, um mich von Paula zu verabschieden. Auf dem Weg durch einen der Gänge zwischen den Bücherregalen bemerkte ich ein Paar langer, fleckiger und nackter Beine, die gekreuzt hinter den Regalen am Ende des Gangs hervorragten; an einem Fuß baumelte lässig eine Sandale. Ich ging leise vorbei und sah Daisy McKeever, die auf einem niedrigen Hocker saß und in einem Buch blätterte. Sie trug ihre weiße Schulbluse und einen blauen Rock, der ein gutes Stück über das Knie hinaufgerutscht war. Auf dem Schild über den Regalen neben ihr stand FRAUEN/GESUNDHEIT. Ich warf einen Blick auf das Buch, das sie las. Es war ein Buch über menschliche Fortpflanzung.
Mein Mund wurde trocken, während ich rasch in einen anderen Gang wechselte. Dort blieb ich stehen und tat, als würde ich die Titel im Regal studieren. Was sollte ich tun? Sie darauf ansprechen -mich in etwas einmischen, das mich streng genommen nichts anging? Aber ihre Mutter war meine beste Freundin – was würde sie von mir erwarten? Wahrscheinlich, dass ich ging und es ihr sofort erzählte. Nichts zu tun war der Ratschlag, der mir im Augenblick am meisten zugesagt hätte. Nur deine Neugier hat dich in diese Lage gebracht, Illaun -jetzt sieh zu, wie du da wieder rauskommst.
Daisy bemerkte, dass sie nicht allein war, und blickte in meine Richtung.
»Ah, hallo Daisy«, sagte ich fröhlich aus dem anderen Gang, als wäre ich gerade dort angekommen.
Daisy klappte das Buch zu und stand errötend auf.
»Keine Schule heute?«
»Ich habe Mittagspause.«
Ich hatte völlig die Zeit vergessen. Vielleicht, weil mein Magen keine Hungersignale aussandte.
»Hey, hast du die Statue schon gesehen, die wir auf dem Friedhof in den Maudlins gefunden haben?«
»Nein«, sagte sie und schob das Buch zurück ins Regal.
»Komm und schau sie dir an«, sagte ich. »Sie ist sehr eindrucksvoll.« Ich wusste nicht, wozu das gut sein sollte, aber es verschaffte mir Zeit zum Nachdenken.
Daisy folgte mir widerwillig und mit gesenktem Kopf. Ich schwafelte von mittelalterlicher Holzschnitzkunst drauflos, während Daisy wortlos um die Statue herumging. Sie blieb kurz vor der Madonna stehen und sah zu ihrem Gesicht hinauf, dann ging sie auf die Rückseite, streckte die Hand aus und fuhr sanft mit den Fingern über den roten Mantel. Es traf mich wie ein elektrischer Schlag.
Wieso hatte ich sie noch kein einziges Mal berührt? Berufliche Etikette, natürlich, wenngleich ich die bei Bedarf schon gelegentlich missachtet hatte. Aber vor sechs Monaten hatte ein Mitglied meines Teams – traurigerweise inzwischen ein Exangestellter – ein berechtigtes Argument vorgebracht: Archäologen, die Artefakte ausgraben, haben selten Gelegenheit, sich über längere Zeit näher mit ihnen zu befassen. Museumsleiter, selbst Museumsbesucher verbringen wahrscheinlich mehr Zeit allein mit den Objekten, die Archäologen im Gelände entdeckt haben. Natürlich erhalten wir zu Forschungszwecken Zugang zu einem Artefakt, aber das ist nicht das Gleiche, wie in den ersten Stunden nach der Entdeckung einen wichtigen Fund ganz für sich zu haben.
»Ihr Umhang ist cool«, sagte Daisy.
»Ja, nicht wahr? Und dasselbe Rot wie das Motorrad deines Freundes.« Es rutschte mir einfach so heraus. Ohne es beabsichtigt zu haben, sprach ich unvermittelt von Darren Byrne und seinem verdammten Motorrad.
Daisy reagierte nicht.
»Habt ihr euch amüsiert am Samstag?«, fragte ich und hörte mich zunehmend an wie meine Tante Betty.
»Wir waren nur eine Stunde unterwegs. Meine Beine sind von fliegenden Steinchen durchsiebt worden. Außerdem musste Darren am Nachmittag nach Dublin fahren und im Büro arbeiten.«
»Komisch«, sagte ich. »Ich habe ihn um 16.00 Uhr draußen in Oldbridge gesehen.«
»Um vier? Bist du dir sicher?« Daisy errötete erneut.
»Na und ob.« Falls ich Byrne in die Bredouille brachte, tat es mir kein bisschen leid.
»Hör zu, ich muss los«, sagte Daisy. »War nett, dass du mir die Statue gezeigt hast.«
»Hab ich gern getan.«
Daisy hielt an der Tür inne und schaute noch einmal zu der Skulptur. »Ich wünschte, ich könnte sie zu meiner Freundin Yaz mitnehmen.«
»Wieso das?«
»Sie ist im sechsten Monat schwanger. Ich rede ihr immer zu, dass sie das Baby stillen muss, aber sie hält nichts davon. Deshalb habe ich in einem Buch
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