Die Pestglocke
Hinweis darauf, dass sie als anatomisch echte Frau geschnitzt worden war, die Kleider trug.
Wir stiegen auf das Podest und gingen um die Statue herum.
»Mir gefällt ihr Umhang«, sagte Paula. »Ich glaube nicht, dass ich sie schon einmal in einem roten gesehen habe.«
»Ja, diese Farbe wird häufiger für ihr Kleid benutzt.«
»Und wieso diesmal der rote Umhang?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Aber wenn möglich, wurde sie immer mit den teuersten Pigmenten bemalt. Das Hellblau, das wir mit Maria in Verbindung bringen, kommt vom Ultramarin und wurde in Italien und darüber hinaus ihre Standardfarbe. Aber in Nordeuropa wurde häufig Rot bevorzugt, weil der Farbstoff aus der Kermesschildlaus ebenfalls ein kostbares Pigment war.«
»Heißt das also, die Statue wurde dort hergestellt?«
»Möglich. Aber ein Beweis ist es nicht.«
Von der Tür her war ein Hüsteln zu vernehmen. Einer von Paulas männlichen Kollegen machte ihr ein Zeichen. »Da ist eine Dame für dich – wegen eines Buchs, das du für sie bestellt hast.« Paula entschuldigte sich und ging zurück in die Bibliothek.
Ich umrundete die Statue ein weiteres Mal und betrachtete sie aus einem Winkel, aus dem man am besten sah, wie die Madonna, die dem Kind die Brust darbot, geschnitzt worden war. Auch wenn ich zu Paula gesagt hatte, die weltliche mittelalterliche Einstellung sei mit dafür verantwortlich, Maria stillend abzubilden, übte man eine gewisse Zurückhaltung in der Darstellung ihrer freiliegenden Brust. Theoretisch wurden Christus, Maria und die Heiligen nicht um des Bildes selbst willen porträtiert, sondern um Geist und Herz zur Kontemplation höherer Dinge zu führen; deshalb war die Darstellung von Marias teilweiser Nacktheit von Konventionen beeinflusst, die darauf abzielten, alle störenden erotischen Signale zu reduzieren, die den Betrachter eventuell ablenkten.
Das Dilemma wurde manchmal gelöst, indem man das Jesuskind auf eine Weise saugen ließ, bei der die Brust gänzlich verdeckt blieb. Das war hier nicht der Fall. Ein anderer Trick bestand darin, die blanke Brust in einer unnatürlich aussehenden, stilisierten Weise auszuführen: auf Gemälden flach und eindimensional, in der Bildhauerei als ein Anhängsel, das wie nachträglich an die Figur geklebt aussah. Aber in diesem Fall hatte man ihre nackte Brust realistisch ausgeführt, einschließlich einer Andeutung des Warzenhofs am Mund des Kindes. Und es war unübersehbar, dass eine zweite, milchgefüllte Brust ihr Gewand auf der anderen Seite ausbeulte. Wenn die Muttergottes auf diese Weise dargestellt war – mit prallen, realistischen Brüsten -, wollte es die Konvention, dass man ihr einen strengen, distanzierten Gesichtsausdruck gab, sodass ihre Weltentrücktheit die augenscheinliche Fleischlichkeit konterkarierte. Doch die Augen dieser Madonna blickten nicht in die Ferne, sie sahen den Betrachter direkt an. Ihr roter Mund war in einem halben Lächeln eingefangen, der Kopf beinahe kokett zur Seite geneigt. Es war ein verwirrender Gesichtsausdruck, als sollte der Betrachter dazu eingeladen werden, sie anzuschauen, gleichzeitig aber gescholten, wenn er es tat.
Doch selbst während ich das Gesicht studierte, wanderte mein Blick immer wieder zu dem Spalt, der vom oberen Ende ihres Gewands bis zu dem Punkt lief, wo das bodenlange Ende ihres Gürtels hinabhing. Ich sah nun, dass es der Schenkel einer geschwungenen, T-förmigen Fuge war, deren Horizontale am Kragen des Kleids entlanglief. Die Statue schien aus mindestens drei Teilen zu bestehen -zwei bildeten den größten Teil ihres Körpers, der dritte Hals und Kopf. Hieß das, man konnte sie auseinandernehmen, und war der Spalt aus diesem Grund belassen worden? War sie eine Art Behälter? Hohl war sie wahrscheinlich ohnedies – das reduzierte das Gewicht und erleichterte es, sie bei Prozessionen mitzuführen. Und doch hatte Brian Morley gesagt, es seien drei von ihnen nötig gewesen, um sie ins Gebäude zu schaffen.
Mein Handy läutete. Es war Finian, und er klang ein wenig hektisch. »Ich tue dir das wirklich nur ungern an, aber ich könnte eine helfende Hand gebrauchen. Dieser südafrikanische Polizeipathologe, den Sherry geholt hat, ist heute Morgen nach Brookfield gekommen, um die Umgebung, in der die Leiche der Frau gefunden wurde, noch einmal zu untersuchen. Dad ist ihm zufällig über den Weg gelaufen und hat ihn ins Haus eingeladen, damit er mich kennenlernt, aber ich muss diese Journalisten durch den Garten
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