Die Pfade des Schicksals
Verstands zurechtzufinden. Linden aber würde es nicht versuchen.
Liand zuckte bei ihrer Antwort zusammen - wegen der Worte selbst oder wegen des scharfen Klanges ihrer Stimme in der milden Nacht. Pahni erstickte ein Wimmern an seiner Schulter, und Mahrtiirs finsteres Schweigen ließ Linden vermuten, er lege sich Argumente zurecht, um sie vielleicht doch noch zu überzeugen. Aber Linden ignorierte ihn, und sie machte sich auch nicht die Mühe, ihren Stab oder Covenants Ring aufzuheben. Jeremiahs kaputtes Spielzeug in ihrer Tasche genügte ihr - ebenso wie das Einschussloch und die kleinen Risse in ihrer Bluse. Ohne die Feindseligkeit in den Blicken der Gedemütigten zu beachten, ging sie zu Infelizitas. Jetzt, da die Krise von Lindens Macht überwunden war, überstrahlte das Echo wilder Magie von Loriks Krill nicht länger das Leuchten der Elohim, und Infelizitas erstrahlte erneut als bewundernswürdige Erscheinung aus Lieblichkeit - und Erschaudern und bestürztem Hochmut. Ihr reich geschmücktes Gewand umhüllte sie wie aus Edelsteinen und Vorwürfen gewebte Tränen.
Im Widerspruch liegt Hoffnung - das hatte die Mahdoubt einst zu Linden gesagt -, und vor ihr waren es Covenants Worte gewesen, und die von Hoch-Lord Mhoram. Die Mahdoubt war um Lindens willen Wahnsinn und Tod verfallen, Covenant lag wie zerschmettert im Gras, und Mhoram hatte Linden nie gekannt.
Ohne Vorrede sagte Linden: »Die Toten sind fort.« Sie zweifelte nicht daran, dass Sunder und Hollian bereits Abschied von ihrem Sohn genommen hatten und Grimme Blankehans die Schwertmainnir verlassen hatte, damit sie bedenken konnten, was sie alles verloren hatten. »Und Covenant kann mir nicht helfen«, fuhr sie fort. »Ich habe ihn zu schwer verletzt.« Auch das Wissen des Eggers, die Frucht langen Eifers und langer Gier, ließ sich nicht mit dem unsterblichen Bewusstsein der Elohim vergleichen. »Also bleibst nur noch du übrig. Sag du mir, wie ich meinen Sohn finden kann.«
Der Egger hatte behauptet, das wolle oder könne Infelizitas nicht.
»Weißgoldträgerin«, antwortete die Elohim scharf. »Du hast selbst gefragt, ob das Unheil, das du angerichtet hast, nicht schon genügt. Willst du Verderben durch Wahnsinn verschlimmern? Dein Sohn ist eine Scheußlichkeit. Wozu er missbraucht wird, ist noch abscheulicher. Hat Berek Halbhand nicht gesagt, dass du dich aufs Neue selbst übertreffen musst? Damit meinte er, dass du dich von diesem wahnwitzigen Verlangen nach deinem Sohn frei machen musst.«
Linden schüttelte den Kopf. Infelizitas’ Worte huschten wie Schemen an ihr vorbei: wirkungslos und ohne ein Ziel zu finden. Solange sie für Verzweiflung taub blieb, war Linden gegen Vorwürfe Dritter immun und zog es zudem vor, Infelizitasens Interpretation der Worte des Hoch-Lords Berek keinen Glauben zu schenken. Als hätte sie die Worte der Elohim nicht vernommen, forderte Linden: »Dann sag mir, wie ich die Schlange aufhalten kann.«
»Die Schlange aufhalten?« Die Stimme der Elohim brach beinahe. »Glaubst du, dass solch ein Wesen sich irgendwie behindern oder aufhalten lässt? Deine Unwissenheit ist so groß wie deine Vergehen es sind.«
Hinter Linden lachte der Egger glucksend und absolut freudlos.
»Dann klär mich auf«, verlangte Linden. »Heile meine Unwissenheit. Wieso existiert solch ein Wesen überhaupt? Zu welchem Zweck? Was hat den Schöpfer dazu gebracht, die Schlange des Weltendes zu erschaffen? Wollte er die eigene Schöpfung vernichten? War alles - ›alles Leben und alle Zeit‹ - nur ein grausames Experiment, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis wir alles falsch machen?«
»Närrin!«, erwiderte Infelizitas aufgebracht. »Wie hätte der Schöpfer sonst eine lebendige Welt erschaffen können? Du bezeichnest dich selbst als Heilerin. Wie kannst du dann nicht wissen, dass das Leben nicht ohne den Tod existieren kann?« Ihre Stimme verfing sich zwischen den Bäumen und webte ein Netz aus Sorge und Abscheu. »Vom kleinsten Grashalm bis zur wildesten Sandgorgone oder den Skurj kann alles Lebende nur existieren, weil es den Keim des eigenen Untergangs in sich trägt. Würden Lebewesen nicht altern und sterben, würden sie bald alles sonstige Leben und Zeit und Hoffnung verdrängen. Deshalb altert alles Lebendige und stirbt irgendwann. Und ist seine Lebensspanne lang, wird dafür seine Fortpflanzungsfähigkeit verringert.«
Während die Elohim sprach, kamen Lindens Freunde näher und scharten sich um sie; nur Bhapa und die
Weitere Kostenlose Bücher