Die Pfade des Schicksals
Ihr eben noch zorniges Glockenspiel klang plötzlich moderater. Der Haruchai hatte offenbar ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Hinter ihr wandte Jeremiah sich von den Seiten oder Wänden seines Gebildes ab. Mit einer Kraft, die Linden erstaunte, weit mehr Kraft, als er hätte besitzen dürfen, hob er den größten der herausgesuchten Knochen auf und stemmte ihn über den Kopf hoch. Sein schlammiger Blick blieb ausdruckslos wie zuvor, als er den massiven Knochen zu seinem Gebilde trug und wie einen Türsturz quer über die Wände legte.
Sobald er den Schenkelknochen fixiert hatte, wurden die Vibrationen der von ihm erzeugten Magie merklich stärker. Linden spürte sie als Summen in ihren Knochen. Wellenförmige Impulse ließen ihre Haut kribbeln, als wäre jeder Quadratzentimeter mit frisch verheilten Wunden bedeckt.
Stave machte jedoch keine Pause. Er ließ sich nicht anmerken, ob er Jeremiah oder seine Theurgie wahrnahm.
»Aber wie du selbst zugegeben hast«, fuhr er fort, »hatte die Auserwählte nichts mit der Befreiung des Jungen von dem Croyel zu schaffen. Er ist auch nicht durch eine Intervention des UrLords befreit worden. Und weder die Auserwählte noch der Zweifler hat das Versteck des Jungen in der Verlorenen Tiefe aufgespürt. Zudem hat uns weder die Auserwählte noch der Zweifler zu dieser Zeit an diesen Ort gebracht - auch nicht ihr Sohn, sein Sohn oder seine frühere Gefährtin. Wir sind nur hier, weil die Ranyhyn es so wollten.
Darin liegt dein Irrtum, Elohim. Jeden wichtigen Schritt auf dem zweckbestimmten Pfad des Jungen haben natürliche Bewohner der Erde veranlasst. Die Auserwählte und der Zweifler, vielleicht sogar auch der Sohn des Zweiflers, haben diese Schritte ermöglicht, aber nicht bewirkt. Deshalb entsprechen unsere Anwesenheit hier und die Demonstration von Lehrenwissen durch den Jungen nicht deiner Beschreibung des Schattens auf dem Herzen der Elohim. Droht uns jetzt ›das Schlimmste aller Übel‹, liegt das nicht an der Schuld, der Absicht oder der Macht des Sohnes der Auserwählten.
Somit«, stellte der Haruchai fest, als wäre seine Logik unwiderlegbar, »ist selbst uns Sterblichen klar, dass deine Einwände falsch sind. Du scheinst zu glauben, dieser Junge sei lediglich ein von anderen benutztes Werkzeug. Aber ein Werkzeug kann nicht für den Gebrauch, den andere von ihm machen, zur Rechenschaft gezogen werden. Und hier gehören die ›Hände‹, die ihn gebrauchen, den Ranyhyn und dem Egger, dem ersten neuen Steinhausener und dem verlorenen Sohn von Sunder und Hollian. Alle diese Hände gehören Sterblichen, deren Zeit endlich ist.
Daraus folgt, dass du keinen Grund hast, dich gegen den Jungen zu stellen. Was er gegenwärtig tut, kann die Absichten des Verderbers nicht befördern.«
Ja, dachte Linden. Ja! Es war Stave gewesen, der sie zuerst glauben gelehrt hatte, Jeremiah gehöre nicht Lord Foul. Nun hatte der ehemalige Meister alle Zweifel zerstreut, die ihren Glauben noch beeinträchtigt hatten.
Außer dass ich deinen geistig behinderten Sohn in meine Gewalt gebracht habe …
Er gehört Foul seit Jahren.
Roger hatte sie belogen. Der Verächter hatte versucht, sie irrezuführen. Beide hatten von Anfang an versucht, sie in Verzweiflung zu treiben. Und das war ihnen gelungen.
Aber Stave hatte ihnen an ihrer Stelle geantwortet. Die Ranyhyn und Anele hatten ihnen geantwortet. Jeremiah selbst antwortete ihnen jetzt.
Vertrauen.
Linden machte sich so unauffällig wie nur möglich daran, in Gedanken Erdkraft anzusammeln.
Als ihr Sohn den Türsturz mit Finger- und Fußwurzelknochen sicherte, erreichte die in seinem Bauwerk verborgene Kraft neue Höhen. Bald fühlte sie sich wie das Knirschen dislozierter Realitäten an, wie eine Tür zwischen Welten. Im Gegensatz dazu klang die Musik der Elohim matt und glanzlos, trüb wie der bleierne Himmel.
Über die Schulter hinweg warf Infelizitas dem Jungen einen wie Edelsteine funkelnden Blick zu. Dann wandte sie sich erstmals an Stave.
»Du bist ein Haruchai«, sagte sie im Tonfall majestätischer Verachtung. »Hast du vergessen, dass deine Kraft vor den Elohim zu Wasser wird - und ebenso bedeutungslos ist? Trotzdem habe ich dir in der Hoffnung zugehört, dass die Weißgoldträgerin ihre Torheit bedenkt, während du Geschichten erzählst. Nun hast du genug gesagt. Mehr will ich nicht hören.
Kann ein Werkzeug nicht für seinen Gebrauch verantwortlich gemacht werden, kann es andererseits nicht benutzt werden, wenn es nicht existiert.
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