Die Pfade des Schicksals
seines Gebildes fertigzustellen: die Seiten eines Eingangs oder der Anfang eines Flurs. Jetzt war er damit beschäftigt, die Zwischenräume mit kleineren Knochen auszufüllen. Und während er ohne Eile und ohne Zögern arbeitete, strömte unaufhörlich Erdkraft aus seinen Händen und verband die vielen Einzelteile des Gebildes fest miteinander.
In dem Knochengerüst bildete sich allmählich Theurgie heraus. Sie entstand erst, war noch unsicher und vage, aber Linden spürte, dass sie bald mächtig werden würde. Seine Konstruktion begann dem numinosen Gebilde ähnlich zu sehen, mit dessen Hilfe er in die Tiefen des Melenkurion Himmelswehr gelangt war. Sie erwachte allmählich zum Leben.
»Also gut«, sagte Linden zum dritten Mal. »Das will ich dir zugestehen. Das klingt vernünftig.
Erzähl es mir jetzt. Ich bin bereit, es zu hören. Was ist ›das Schlimmste aller Übel‹? Wenn Gefangenschaft schlimmer ist, als von der Schlange des Weltendes gefressen zu werden, was kann dann ›das Schlimmste aller Übel‹ sein?«
Infelizitas war nun ganz Zorn, ein lärmendes Läuten, das sich unmöglich ignorieren ließ. »Der Verächter«, tönte sie, »der auch a-Jeroth und Lord Foul heißt und viele weitere Namen trägt, hat dem Jungen sein Zeichen aufgedrückt. Du beanspruchst den Jungen als deinen Sohn, aber du kennst ihn nicht. Du hast noch nicht begriffen, dass es kein Limit dafür gibt, was er mit entsprechender Unterstützung erreichen kann.
Der Verächter will bestimmt aus dem Bogen der Zeit entkommen - aber dafür braucht er den Jungen nicht. Insgeheim hegt er jedoch finsterere Absichten. Mit Hilfe der Talente des Jungen versucht er, nach dem Fall des Bogens ein Gefängnis für den Schöpfer zu erbauen. Das will er im Augenblick des Zusammenbrechens tun, wenn alle Dinge wandelbar geworden sind. Weil der Verächter gelitten hat, will er die gesamte Schöpfung in endloser Leere und Traurigkeit leiden lassen.
Aber das begreifst du nicht. Dein sterblicher Verstand kann sich solch absoluten Verlust nicht vorstellen. Trotzdem flehe ich dich an, mich zu erhören. Du hast nach dem Schatten auf dem Herzen der Elohim gefragt. Das fortwährende Ende der Schöpfung ist Schatten genug, um das Herz jedes Lebewesens zu verfinstern.«
Linden starrte sie an und war trotz ihrer Loyalität zu Jeremiah schockiert. War das möglich? Vorstellbar? Konnte Lord Foul das tun? Mit Jeremiahs Hilfe? Das fortwährende Ende …
… aber von meinen dunklen Absichten will ich nicht sprechen.
Die Theurgie hinter Infelizitas begann machtvoll zu pochen. Jeremiah schien mit der zweiten Wand, der anderen Seite einer Tür oder eines Flurs, fast fertig zu sein. In wenigen Augenblicken würde er die nächste Phase seines noch rätselhaften Gebildes in Angriff nehmen.
Dazu brauchte er mehr Zeit. Aber Linden war zu benommen, um klar denken zu können. Das fortwährende Ende …? In einem Punkt hatte Infelizitas recht: Diese Idee überstieg Lindens Vorstellungsvermögen. Lord Foul wollte das? Und ihr gingen die Fragen und Argumente aus. Bald würde sie ihre Gegenspielerin nur noch mit Erdkraft oder wilder Magie aufhalten können.
»Trotzdem ist auch dein Verständnis fehlerhaft, Elohim«, sagte Stave unerwartet. Er stand weiter mit verschränkten Armen da, leidenschaftslos wie Jeremiah und ebenso unbeteiligt. »Ich gestehe dir zu, dass deine ewigen Gedanken tiefer sind als meine oder der Auserwählten oder sogar der Ranyhyn. Aber wenn du von dem Schatten auf eurem Herzen sprichst, widersprichst du dir selbst.
In Andelain hast du behauptet, euch betrübe eine Gefahr, ›die von Lebewesen außerhalb der Zeit ausgehe. Du hast die Auserwählte und auch den Zweifler zitiert, und ich bezweifle nicht, dass auch dieser Junge einen Platz in deiner Schilderung von Finsternis hat. Deiner Beschreibung nach sind sie ›kleine und sterbliche Wesen, die aber trotzdem imstande sind, ungeheure Verwüstungen zu bewirkend«
Linden erinnerte sich. Aus eigener Kraft, hatte Infelizitas damals gesagt, kann der Verächter den Bogen der Zeit nicht zerstören. Dazu braucht er deine Hilfe, Weißgoldträgerin, und die des Mannes, der einst der Zweifler war.
»Damit du zufrieden bist«, fuhr Stave fort, »will ich dir zugestehen, dass die im Land beobachtete Anwesenheit von ›Lebewesen außerhalb der Zeit‹ hauptsächlich auf den Verderber zurückgeht - wenn nicht auf ihn persönlich, dann auf die Bemühungen seiner Diener.«
Infelizitas zog elegant ihre Augenbrauen hoch.
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