Die Pfeiler der Macht
»Wie meinen Sie das?«
»Du hast meinen Sohn gedeckt. Du hast heute einen Meineid geschworen.« Ihre Direktheit brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Augusta nahm es befriedigt zur Kenntnis: Jetzt hatte sie das Heft wieder in der Hand. »Ich glaube nicht, daß du das aus reiner Herzensgüte getan has t . Ich glaube, du erwartest eine Gegenleistung. Warum sagst du mir nicht einfach, was du willst?« Sie sah, wie sein Blick sekundenlang auf ihrem Busen verweilte. Einen irrwitzigen Augenblick lang glaubte sie, er wolle ihr einen unanständigen Antrag machen.
»Ich möchte gerne die Sommerferien bei Ihnen verbringen«, sagte Micky.
Das hatte sie nicht erwartet. »Warum?«
»Ich brauche sechs Wochen für den Heimweg. Deshalb muß ich in den Ferien in der Schule bleiben, ganz allein. Das ist entsetzlich langweilig. Für mich gäbe es nichts Schöneres, als den Sommer mit Edward zu verbringen. Laden Sie mich ein?« Urplötzlich war er wieder ein ganz normaler Schuljunge. Augusta hatte schon damit gerechnet, er würde Geld fordern oder eine Anstellung beim Bankhaus Pilaster. Und dann dieser harmlose, beinahe kindische Wunsch!
Nun ja, ihm liegt wohl wirklich sehr daran, dachte sie. Schließlich ist er ja auch erst sechzehn.
»Es freut uns, wenn du deine Ferien bei uns verbringst«, sagte sie.
Der Vorschlag war ihr gar nicht unangenehm. Micky Miranda war ein Filou, gewiß, und in seiner Art nicht zu unterschätzen. Aber er verfügte über perfekte Manieren und sah gut aus: ein angenehmer Gast. Vielleicht, dachte Augusta, übt er ein wenig Einfluß auf Edward aus. Wenn Teddy einen Fehler hatte, dann war es seine Ziellosigkeit. Micky war das genaue Gegenteil von ihm, und vielleicht übertrug sich ja ein wenig von seiner Willensstärke auf Teddy.
Micky lächelte strahlend. »Vielen Dank«, sagte er. Seine Freude wirkte aufrichtig.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte Augusta. Sie wollte noch eine Weile allein bleiben und über das Gehörte nachdenken. »Ich finde selbst wieder zurück.«
Er erhob sich von der Bank, in der sie saßen. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Augusta schüttelte sie. »Ich bedanke mich bei dir. Du hast Teddy beschützt.«
Er verneigte sich, als wolle er ihr die Hand küssen, doch zu Augustas großer Verblüffung küßte er sie auf den Mund. Es ging so schnell, daß ihr keine Zeit blieb, sich abzuwenden. Sie wollte protestieren, doch bevor ihr die richtigen Worte einfielen, hatte er sich schon wieder aufgerichtet und war gegangen. Empörend! dachte sie. Nein, küssen hätte er mich nicht dürfen, schon gar nicht auf den Mund! Für wen hielt sich der Bengel eigentlich?
Im ersten Moment hätte sie ihre Ferieneinladung am liebsten wieder rückgängig gemacht, aber das ging natürlich nicht. Warum eigentlich nicht? fragte sie sich. Warum kann ich nicht von dieser Einladung zurücktreten? Ein Schuljunge hat sich unverschämt benommen, also lädt man ihn wieder aus. Aber Augusta Pilaster war sich ihrer Sache keineswegs sicher, und das nicht nur deshalb, weil Micky ihrem Teddy eine üble Schmach erspart hatte. Es war viel schlimmer: Sie hatte sich mit ihm auf eine kriminelle Verschwörung eingelassen und war ihm nun ausgeliefert.
Micky Miranda hatte sie in der Hand.
Noch lange saß Augusta in dem kühlen Gotteshaus, starrte die kahlen Wände an und fragte sich beklommen, wie dieser hübsche, frühreife Knabe seine Macht nutzen würde.
Teil I
Mai 1873
1. Kapitel
Micky Miranda war dreiundzwanzig, als sein Vater nach London kam, um Waffen zu kaufen.
Senor Carlos Raul Xavier Miranda - für Micky seit jeher nur »Papa« - war ein kleiner, gedrungener Mann mit ausladenden Schultern. Aggressivität und Brutalität hatten tiefe Furchen in sein gebräuntes Gesicht gegraben. Im Sattel auf seinem kastanienbraunen Hengst, in ledernen chaparajos und Sombrero, mochte er eine eindrucksvolle, ehrfurchtgebietende Figur abgeben - hier jedoch, im Hyde Park, angetan mit Gehrock und Zylinder, kam er sich vor wie ein Idiot. Entsprechend übel war seine Laune. In diesem Zustand war er unberechenbar.
Sie sahen einander nicht ähnlich. Micky war groß und schlank und besaß regelmäßige Gesichtszüge. Wenn er etwas wollte, erreichte er es gewöhnlich mit einem Lächeln, nicht mit einem Stirnrunzeln. Er liebte die Annehmlichkeiten des Lebens in London über alles: schöne Kleidung, gute Manieren, linnene Bettwäsche und sanitäre Anlagen. Seine größte Sorge
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