Die Pfeiler der Macht
Karten spielten, streiften ihn nur mit einem kurzen Blick und vertieften sich wieder in ihr Blatt, ohne ein Wort zu verlieren. Der dritte, Fatty Greenbourne, aß gerade Kuchen. Seine Mutter schickte ihm ständig Freßpakete. »Tag, ihr beiden«, sagte er liebenswürdig. »Stückchen Kuchen gefällig?«
»Himmel, Greenbourne! Du mästest dich wie ein Schwein«, tadelte Micky.
Fatty zuckte nur mit den Schultern und mampfte ungerührt weiter. Da er nicht nur Jude, sondern auch dick war, wurde er noch mehr gehänselt als die anderen, aber es schien ihm nichts auszumachen. Sein Vater, so hieß es, war der reichste Mann der Welt. Vielleicht ist Fatty deshalb so unangreifbar, dachte Micky. Er ging zum Fenster, riß es auf und sah sich draußen um. Der Stallhof lag verlassen da.
»Was habt ihr vor, ihr zwei?« fragte Fatty. »Schwimmen gehen«, sagte Micky. »Das gibt 'ne Tracht Prügel.«
»Ich weiß«, sagte Edward, und es klang ziemlich kläglich. Micky schwang sich aufs Fensterbrett, robbte rückwärts und ließ sich dann auf das nur ein paar Zentimeter tiefer liegende Schrägdach des Waschhauses fallen. Er meinte, eine Schieferpfanne knacken zu hören, doch das Dach hielt. Als er aufblickte, sah er Edwards ängstliche Miene im Fenster. »Komm schon!« raunte er ihm zu, kletterte das Dach hinunter, fand ein Abzugsrohr und ließ sich daran zu Boden gleiten. Eine Minute später landete Edward neben ihm.
Micky spähte um die Ecke. Kein Mensch war zu sehen. Er fackelte nicht lange und flitzte über den Hof in den Wald. Erst als ihn die Bäume so weit verbargen, daß er sicher war, von den Schulgebäuden aus nicht mehr gesehen zu werden, machte er halt und holte Luft. Gleich darauf tauchte Edward neben ihm auf. »Geschafft!« sagte Micky. »Kein Mensch hat uns gesehen.«
»Sie schnappen uns bestimmt, wenn wir zurückkommen«, maulte Edward.
Micky lächelte. Mit seinem glatten Blondhaar, den blauen Augen und der großen Nase, die wie eine breite Messerklinge wirkte, war Edward ein Engländer wie aus dem Bilderbuch. Er war ein großer Junge mit breiten Schultern, stark, aber unbeholfen. Er besaß keinerlei Stilgefühl, und entsprechend schlecht saßen seine Kleider.
Beide Jungen waren gleichaltrig, nämlich sechzehn, doch damit erschöpften sich ihre Gemeinsamkeiten auch schon: Micky mit seinem dunklen Lockenschopf und seinen dunklen Augen war peinlichst genau auf seine Erscheinung bedacht. Unordentlichkeit oder gar Schmutz waren ihm verhaßt.
»Kein Vertrauen, Pilaster?« stichelte Micky. »Hab' ich nicht immer gut auf dich aufgepaßt?«
Edward grinste besänftigt. »Schon gut. Los jetzt!« Sie schlugen einen kaum sichtbaren Pfad durch den Wald ein. Unter dem Laubdach der Buchen und Ulmen war es angenehm kühl, und Micky fühlte sich allmählich besser. »Was machst du in den Sommerferien?« fragte er Edward. »Im August sind wir immer in Schottland.«
»Habt ihr eine Jagdhütte dort?« fragte Micky. Er hatte die Ausdrucksweise der englischen Oberschicht aufgeschnappt und wußte, daß »Jagdhütte« selbst dann die korrekte Bezeichnung war, wenn es sich dabei um ein Schloß mit fünfzig Zimmern handelte.
»Wir mieten eine«, erwiderte Edward. »Aber wir gehen nicht jagen. Mein Vater hat für Sport nicht viel übrig, weißt du.« Micky erkannte den abwehrenden Ton in Edwards Stimme und fragte sich, was er bedeuten mochte. Er wußte, daß sich die englische Aristokratie im August auf der Vogeljagd und den Winter über auf der Fuchsjagd vergnügte. Er wußte außerdem, daß kein Aristokrat seine Söhne nach Windfield schickte. Die Väter der Windfield- Eleven waren keine Grafen und Bischöfe, sondern Geschäftsleute und Ingenieure, Männer also, die keine Zeit zu verschwenden hatten, weder aufs Jagen noch aufs Schießen. Die Pilasters waren Bankiers, und wenn Edward sagte, sein Vater hätte nicht viel übrig für Sport, so gab er damit indirekt zu, daß seine Familie nicht gerade zu den oberen Zehntausend zählte. Daß die Engländer Müßiggängern mehr Respekt entgegenbrachten als arbeitenden Menschen, war ein Umstand, der Micky immer wieder aufs neue amüsierte. In seinem eigenen Land hatte man weder vor ziellos dahintreibenden Adligen noch vor hart arbeitenden Geschäftsleuten Respekt. Dort achtete man nur die Macht. Was mehr konnte ein Mann begehren, als Macht über andere zu besitzen - die Macht, zu ernähren oder verhungern zu lassen, die Macht, einzukerkern oder zu befreien, zu töten oder am Leben zu
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