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Die Pfeiler der Macht

Die Pfeiler der Macht

Titel: Die Pfeiler der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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anderer älterer Schüler vor Tonios Hänseleien sicher war, verhielt er sich Micky gegenüber auffallend höflich, ja geradezu unterwürfig. Was Peter betraf, der starb sicherlich vor Schreck - er fürchtete sich ja sogar vor seinem eigenen Schatten. Blieb nur die Hoffnung, daß er den miesen Kerlen entwischt war.
    Albert Cammel schließlich, der auf den Spitznamen Hump - Höcker - hörte, war nicht mit ihnen gekommen und hatte seine Kleider woanders abgelegt. Wahrscheinlich war er unbehelligt geblieben.
    Auch er selbst war ihnen entkommen, doch das hieß noch lange nicht, daß er nun aus dem Schneider war. Seine Unterwäsche, seine Socken und seine Schuhe waren weg. Er würde sich triefnaß in Hemd und Hosen in die Schule schleichen müssen - hoffentlich erwischte ihn keiner der Lehrer oder älteren Schüler dabei! Bei diesem Gedanken stöhnte Hugh laut auf. Warum muß ausgerechnet mir immer so was passieren? fragte er sich. Ihm war hundeelend zumute.
    Immer wieder hatte er Ärger, seit er vor achtzehn Monaten nach Windfield gekommen war. Das Lernen machte ihm nichts aus – er lernte gut und schnell, und für seine Klassenarbeiten erhielt er stets Bestnoten. Es waren die kleinkarierten Internatsregeln, die ihm so fürchterlich auf die Nerven gingen. Statt jeden Abend Viertel vor zehn im Bett zu liegen, wie es Vorschrift war, fand er immer wieder einen zwingenden Grund, bis Viertel nach zehn aufzubleiben. Orte, die zu betreten streng verboten war, zogen ihn geradezu magisch an. Sein Forscherdrang trieb ihn immer wieder in den Pfarrgarten, in den Obstgarten des Direktors, in den Kohlen- oder den Bierkeller. Er lief, wenn er gehen sollte, las, wenn er schlafen sollte, und schwätzte während des Gebets. Und immer wieder endete es so wie heute: Er fühlte sich schuldig, hatte Angst und haderte mit seinem Schicksal. Warum tust du dir das bloß an? fragte er sich, wenn wieder einmal alles schiefgegangen war. Minutenlang herrschte Totenstille im Wald, während Hugh düster über seine Zukunft nachgrübelte. Würde er wohl eines Tages als Ausgestoßener enden? Als Verbrecher womöglich, den man ins Gefängnis warf oder als Sträfling nach Australien verbannte? Als Galgenvogel, der am Strick endete?
    Im Augenblick schien wenigstens Edward nicht hinter ihm her zu sein. Hugh stand auf und zog sich Hemd und Hose an, beides noch naß. Dann hörte er ein Weinen.
    Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck - und erkannte Tonios karottenfarbenen Haarschopf. Langsam kam sein Freund den Pfad entlang, die Kleider in den Händen, triefnaß, nackt und schluchzend.
    »Was ist los?« fragte Hugh. »Wo bleibt Peter?« Urplötzlich wurde Tonio wild. »Das sag' ich nicht! Nie!« rief er. »Sie würden mich umbringen!«
    »Na schön, dann laß es eben bleiben«, meinte Hugh. Es war das Übliche: Tonio hatte eine Höllenangst vor Micky, und was immer auch passiert sein mochte, Tonio würde kein Wort verraten. »Am besten ziehst du dich erst mal an«, schlug Hugh vor. Das war das Naheliegendste.
    Tonio starrte wie blind auf das Bündel triefender Kleider in seinen Händen. Er stand offenbar unter Schock. Hugh nahm ihm das Bündel ab: Die Schuhe und die Hosen waren da, dazu eine Socke, aber kein Hemd. Er half Tonio beim Anziehen. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Rückweg.
    Tonio weinte nicht mehr, wirkte aber immer noch zutiefst erschüttert. Hugh konnte nur hoffen, daß die beiden Quälgeister Peter nicht allzusehr zugesetzt hatten. Außerdem kam es jetzt vor allem darauf an, die eigene Haut zu retten. »Wenn wir bloß irgendwie in den Schlafsaal kommen«, sagte er, »dann können wir uns frisches Zeug und andere Schuhe anziehen. Und wenn der Arrest erst mal aufgehoben ist, kaufen wir uns in der Stadt neue Kleider auf Kredit.«
    »Einverstanden«, sagte Tonio dumpf und nickte.
    Schweigend setzten sie ihren Weg durch den Wald fort. Erneut fragte sich Hugh, was Tonio so verstört haben mochte. Schikanen durch die Älteren waren schließlich nichts Neues in Windfield. Was mochte am Teich noch geschehen sein, nachdem ihm selbst die Flucht gelungen war? Von Tonio konnte er sich kaum Aufklärung erhoffen. Der sagte den ganzen Rückweg über kein Wort mehr.
    Das Internat bestand aus sechs Gebäuden, die einst den Mittelpunkt eines großen Gutshofs gebildet hatten. Ihr Schlafsaal befand sich in der ehemaligen Meierei unweit der Kapelle. Um dorthin zu gelangen, mußten sie eine Mauer übersteigen und den Spielhof überqueren. Sie erkletterten

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