Die Pflanzenmalerin
ihrem Gesicht und staunte über seine Blindheit.
Eines Nachmittags saß er da und schaute ihr beim Zeichnen zu. Nur unter Protest hatte sie es gestattet; er ahnte nicht, wie viel da von ihr verlangte. Als sie begann, war es wie eine Entblößung, und sie zeichnete ungeschickt und zögernd. Dann aber löste sich etwas in ihr, ihre Konzentration wuchs, der Aufruhr in ihrem Innern legte sich, und bald nahm sie seine Gegenwart gar nicht mehr wahr. Die vertraute Falte erschien auf ihrer Stirn und vertiefte sich, und einen Moment lang fragte er sich, wie er sie je hatte gewöhnlich finden können. Als er sie schließlich unterbrach, war die Zeichnung zu zwei Dritteln fertig.
»Sie haben Talent«, sagte er. »Mehr Talent, als mir je begegnet ist.«
Sie wandte sich ihm zu. »Wenn ich zeichne, ist mir, als sei das Zeichnen alles, was ich habe.«
»Es ist eine besondere Begabung. Ich wünschte, Sie könnten reisen und die Pflanzen der Tropen malen. Ich stelle mir vor, wie Sie trotz der Hitze in Ruhe arbeiten, so versunken, dass Sie keinen Gedanken an den umherstreifenden Tiger oder die Schlange zu ihren Füßen verschwenden.«
Er lachte, und sie lächelte, obgleich seine Worte die Mauern, die sie gefangen hielten, höher und enger erscheinen ließen.
So vergingen die Nachmittage als helle, mit Traurigkeit gefleckte Farben. Eine Woche vor seiner Abreise nach London wies sie auf einen Waldvogel zwischen den Bäumen und meinte, kleine braune Vögel wie dieser genügten ihm nicht; seine Reise sei nötig, damit er nach Vögeln forschen könne, die ihn mit ihren strahlenderen Farben und ihren ausgefalleneren Formen zufrieden stellten. Der Ernst ihrer Worte kränkte ihn zunächst, und er begann sich zu verteidigen, doch dann erfasste er deren tieferen Sinn und sah ihr lächelnd in die Augen. Er lächelte noch immer, als er später Abschied nahm und sie ihrer Arbeit überließ. Ehe er in den Schatten der Bäume trat, rief sie noch einmal seinen Namen.
»Mr. Banks!« Er hielt inne und wandte sich um. »Mr. Banks, ich möchte Ihnen für die Freundlichkeit danken, die Sie mir in diesen wenigen Tagen erwiesen haben.«
Er schüttelte den Kopf, jetzt wieder ernst.
»Ganz im Gegenteil: Ich stehe in Ihrer Schuld. Ihre Zeichnungen haben mich in meiner Berufung bestärkt. Und die Erinnerung an die Wälder hier wird mir Kraft geben, wenn ich fern auf dem Meer weile.«
Sie betrachtete ihn aufmerksam, und die Spätnachmittagssonne zeichnete ihre Züge weicher.
»Dennoch sollen Sie wissen, dass ich Ihnen dankbar bin.«
Er verneigte sich, und als er sich zum Gehen wandte, glaubte er einen Moment, sie wolle noch etwas sagen. Er verharrte, aber sie nickte nur, und so ging er lächelnd davon.
Als er am nächsten Tag wiederkam, fand er die Lichtung leer. Das überraschte ihn. Das Wetter war schön, und in ihrem Buch warteten noch ein Dutzend Zeichnungen darauf, von ihm studiert zu werden. Er hatte sie bitten wollen, ihm eine davon zu überlassen. Ein Freund von ihm, ein Botaniker namens Daniel Solander, war ein hervorragender Kenner solcher Dinge. Es war bedauerlich, dass sie nicht da war, um seine Bitte anzuhören. Er legte sich ins Gras und atmete den starken, köstlichen Duft der frischen Sommerwiese ein.
Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, als ihn das Rascheln der Vögel im Laub der Bäume hinter ihm weckte. Sie war nicht gekommen.
Am nächsten Morgen hatte er es so eilig, zu der Lichtung im Wald zu gelangen, dass er den Brief beinahe übersehen hätte. Er kannte die gepflegte Handschrift nicht, wusste jedoch sofort, dass es ihre war.
»Sir«, schrieb sie, »der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechtert sich, und ich werde die Tage bis zu Ihrer Abreise an seiner Seite verbringen müssen. Sie würden uns beiden einen Gefallen erweisen, wenn Sie nicht bei uns vorsprechen.«
Der Brief war nicht unterzeichnet.
Trotz seiner dringlichen Bitten wollte sie ihn nicht sehen. An dem Tag, an dem ihr Brief eintraf, war der Himmel blau, und als er, den Bogen in der Hand, mit großen Schritten nach Revesby eilte, flimmerte bereits die Hitze zwischen ihm und dem Horizont. Erst war er geneigt, ihren Entschluss auf die leichte Schulter zu nehmen, ihn als Koketterie abzutun oder schlimmstenfalls als eine vorübergehende Betrübnis wegen der Krankheit ihres Vaters, die sich legen würde, sobald die Krise überstanden war. An ihrer Tür aber wurde er von der Frau, die ihm öffnete, mit Bestimmtheit abgewiesen, und auch am
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