Die Pflanzenmalerin
hastig, dass ich es fast übersehen hätte: Das, wonach ich suchte, lag nicht in einem Kasten, sondern in einer Mappe zwischen zwei Kästen, und die Tinte darauf war verblasst. Selbst hier schien sich der Ulieta-Vogel rar machen zu wollen.
Ich blieb davor stehen, und die Frau nickte.
»Nur zu. Steigen Sie ruhig auf einen Stuhl.«
Schon in dem Augenblick, als ich die Mappe herunternahm, wusste ich, dass ich die Antwort nicht darin finden würde. Sie war zu leicht - einen Moment lang glaubte ich sogar, sie sei leer. Aber ich irrte mich. Hans Michaels hatte schließlich Forschungen betrieben, und was er entdeckt hatte, war hier, auf einem einzelnen Blatt Papier. Keinerlei Text, keine Daten, keine Quellenangaben. Nur eine einfache Bleistiftskizze von einem Frauengesicht.
Als ich das Blatt im helleren Licht des Wohnzimmers erneut betrachtete, war mir noch immer nicht klar, was es zu bedeuten hatte. Es zeigte eine junge Frau, nicht schön, aber auffallend, mit Augen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen und festhielten. Eine Intensität lag in ihnen, die dem Gesicht etwas Einprägsames verlieh. Und etwas Wissendes, das mich traurig stimmte.
»Das stammt eindeutig von Hans«, sagte meine Gastgeberin. »Er konnte gut zeichnen, wenn er wollte. Er hat oft Skizzen von Dingen gemacht, an die er sich später erinnern wollte.«
Wieder betrachtete ich das Gesicht auf dem Bild.
»Und Sie haben keine Ahnung, wer das ist?«
»Ich erkenne die Frau nicht, wenn Sie das meinen. Aber das wundert mich nicht. Sie hat irgendwie etwas Altertümliches an sich, finden Sie nicht? Als ob er sie von einem alten Gemälde oder aus einem alten Buch abgezeichnet hätte.«
»Aber wer ist sie?« Die Frage war mehr an mich selbst gerichtet als an sie, doch sie schaute von dem Bild auf und sah mich an.
»Das werden Sie wohl selbst herausfinden müssen.«
Kurz darauf bat sie mich zu gehen, sie werde allmählich müde und wolle jetzt gern allein sein. Das Bild durfte ich nicht mitnehmen. Als ich es noch ein letztes Mal betrachtete, wurde mir klar, wie wenig ich in der Hand hatte. Und das rief Erinnerungen an meinen Großvater wach.
Als Kind musste mein Großvater einmal einen lateinischen Text übersetzen, eine Passage aus dem Werk eines römischen Historikers, die den Tribut beschrieb, den eines der großen Königreiche im Süden Afrikas einem römischen General im Norden entrichtete. Die Liste der übersandten Geschenke war traditionell, fast standardmäßig für die damalige Zeit: Gold, Silber, Gewürze, Edelsteine, Elfenbein, Schwerter, Pfauen. Die Übersetzung fiel meinem Großvater leicht, und er wollte schon die nächste Aufgabe in Angriff nehmen, da ließ ihn das letzte Wort innehalten - pavus , der Pfau. Ganz einfach. Doch mein Großvater verstand sehr viel mehr von Ornithologie als von Latein und vergewisserte sich noch einmal; erst jetzt weckte der Text sein Interesse. Es gab keinen Zweifel. »Pfauen« stand da. Der Tribut stammte definitiv aus einem Königreich im Süden Afrikas, und es waren Pfauen dabei. Mein Großvater las die Passage noch einmal und fragte sich, weshalb es noch niemandem aufgefallen war, denn eines wusste er genau: Einen afrikanischen Pfau gab es nicht. Es gab blaue Pfauen in Indien und grüne Pfauen auf Java. In Afrika gab es keine Pfauen.
Auf die Idee, dass der Autor sich geirrt oder aus Bequemlichkeit eine Abkürzung verwendet haben könnte, als er die Insignien des Reichtums beschrieb, kam mein Großvater offenbar nicht. Die Sache setzte sich als ungelöstes Rätsel in seinem Kopf fest, und als er nach Abschluss seines Studiums auf seinem Gebiet zu sammeln begann, nahm er das Rätsel mit sich. Mit Mitte zwanzig bereiste er die Karibik und Mittelamerika und entdeckte die ersten Überreste des Puerto-Rico-Ziegenmelkers. Zwei Jahre später verfolgte er in Afrika die Spur einer seltenen, Fisch fressenden Eule. In all der Zeit sprach er offenbar nie über den Verdacht seiner Kindheit, es könnte irgendwo in Afrika Pfauen geben. Aber der Gedanke war da und wartete, und als 1913 ein Amerikaner namens James Chapin mit einer einzelnen Feder, die zu keiner bekannten Spezies passte, aus den Urwäldern des Kongobeckens auftauchte, schäumte der Verdacht über, und eine Obsession war geboren.
Ich ging an dem Tag erst spät nach Hause. Es regnete, und es war schon dunkel. Ich hatte einen Handwerker kommen lassen, der während meiner Abwesenheit die aufgebrochene Haustür sicherte, und die drei Bretter, mit denen
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