Die Pforte
Anschlag auf sämtliche Sinne reichte aus, um nun auch Paige zu wecken.
Travis merkte, wie sie zusammenzuckte. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass sie ihn mit weit aufgerissenen Augen erschrocken aus nächster Nähe anstarrte. Das war’s dann wohl. Damit war das Täuschungsmanöver gelaufen. Sie würde heftig zurückweichen, und gleich darauf würde M G-Feuer die letzten Sekunden ihres Lebens einläuten.
Dann änderte sich der Ausdruck ihrer Augen, sie verstand offenbar. Sie zog ihn enger an sich, hob ihren heilen Arm und grub ihm die Finger ins Haar. Und jetzt öffnete sie den Mund und küsste ihn tatsächlich, so warm und intensiv, dass Travis kurz alles andere um sich herum vergaß, das Dröhnen der Rotoren, die schmerzhaft peitschende Luft, und nur noch ihren Kuss wahrnahm, so drängend und verzweifelt wie ihr Bedürfnis weiterzuatmen. Allein für diesen Augenblick hatte es sich gelohnt, es kam kaum darauf an, dass alles nur Täuschung war.
Nebenher kam ihm der Gedanke, dass sie dem Hubschrauber vielleicht besser zuwinken sollten, wie das wohl jeder getan hätte, doch da war auch schon eine Änderung im Motorgeräusch zu hören, und gleich darauf entfernte sich der Hubschrauber talaufwärts, und damit hörte auch der heftige Wind auf.
Sie küsste ihn noch etwas länger, bis der Hubschrauberweit genug weg war, und wich dann ein Stück zurück, sah ihm aber weiter tief in die Augen.
«Gut geschaltet», flüsterte sie heiser.
Er nickte bloß, weil es ihm so ziemlich die Sprache verschlagen hatte.
Sie wollte sich nach dem Hubschrauber umsehen, schnappte aber dann laut nach Luft und wäre vor jähem Schmerz beinahe ohnmächtig geworden. Sie hatte versehentlich ihren verletzten Arm an Travis gedrückt, so leicht, dass er es gar nicht gespürt hatte.
Nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte, streckte sie langsam den Arm vor sich aus. Beim Anblick der dunkel verfärbten Adern in ihrem Unterarm, über dreißig Zentimeter vom Infektionsherd entfernt, sah Travis zum ersten Mal, seit er sie kannte, Angst in ihren Augen.
«Wie weit noch bis zur Stadt?», fragte sie.
«Nur noch ein paar Stunden», log er. «Machen Sie wieder die Augen zu, wir sind ganz bald da.»
Zunächst schien sie seinem Rat zu folgen. Sie schmiegte sich an, die Stirn an seine Wange gelegt. Er wollte gerade wieder aufstehen, aber sie hatte ihm noch etwas mitzuteilen.
«Bitte merken Sie sich Folgendes. Von dem Lager aus, wo ich gefoltert wurde, gehen Sie fünfzig Schritte in die der Absturzstelle entgegengesetzte Richtung. Halten Sie Ausschau nach dem größten Baum, er ist nicht zu verfehlen. Das Flüstern habe ich genau dahinter vergraben, etwa einen halben Meter tief. Ich habe die Stelle mit Nadeln getarnt, damit sie nicht auffällt.»
«Es ist nicht nötig, mir das zu sagen», sagte Travis. «Sie geben diese Angaben persönlich weiter.»
Er wartete auf eine Antwort, aber sie sagte nichts mehr.Gleich darauf merkte er, wie ihre Atemzüge an seinem Hals in einen ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus übergingen.
STROPHE II
EINES SPÄTEN ABENDS IM OKTOBER 1992
Durch die dünne Gardine vor dem Wohnzimmerfenster erkennt Travis, dass er beinahe richtig vermutet hat: Sie sitzen tatsächlich eng umschlungen da, allerdings nicht auf dem Sofa, sondern gemeinsam auf einen der Sessel gezwängt.
Er klopft an die Haustür und sieht, wie sich der Mann umwendet. Kurz darauf sieht Travis durch das kleine Fenster in der Tür, wie er durch den Flur näher kommt. Die Augen des Mannes sind vom Weinen ganz rot. Auf dem Esszimmertisch hinter ihm stehen etliche Blumensträuße und Beileidskarten.
Der Mann schaut nicht einmal durch das Fenster, ehe er die Tür öffnet – er rechnet wohl mit jemand anderem –, und als er Travis vor sich stehen sieht, zuckt er aufgebracht zurück. Seine Augen verengen sich. Aus dem linken rinnt eine Träne.
Während er in diese Augen blickt, rechnet Travis fest damit, dass der Mann sich wortlos umdreht, ins Nebenzimmer verschwindet, mit seiner Schrotflinte zurückkehrt und dann auf ihn feuert. Sollte es so kommen, wird Travis nichts unternehmen, um sich in Sicherheit zu bringen. Er weiß, er hat es nicht besser verdient, denn er ist schuld am Leid dieser Leute.
Aber Emily Price’ Vater dreht sich nicht um. Hinter ihm dringt die vom vielen Weinen ganz brüchige Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer, die wissen will, wer da ist.
Sie erhält keine Antwort.
Mr. Price starrt Travis weiter zornig an und
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