Die Philosophin
Arbeit danach geschaut, um sich zu vergewissern, dass er noch an seinem Platz war, in panischer Angst, jemand könneihn an sich nehmen, und gleichzeitig hoffend, dass er sich in nichts auflöste.
Sollte sie oder sollte sie nicht? Als hätte sie eine Herdplatte berührt, brannte das Papier auf ihrer Haut, als sie nach dem Stapel griff. Mehrere hundert beschriebene Seiten, der größte Schatz, der je in ihre Hände gefallen war. Welche Geschichte mochten sie enthalten? Welche Geister hausten in den Buchstaben und Schriftzeichen, in den Sätzen und Wörtern?
Es war, wie wenn sie als Kind nach einem der Bücher griff, die ihr Vater Dorval aus seiner Kiepe hervorholte. Die Erinnerung erfüllte sie mit solcher Glückseligkeit, dass ihr angst und bange wurde. Nein, sie würde der Versuchung widerstehen. Statt das Manuskript in ihre Kammer zu tragen, legte sie es zurück in das Fach und beschloss, es gleich morgen früh Monsieur Procope zu geben, damit er es in Gewahrsam nahm. Sie wusste ja, wer all die Seiten geschrieben hatte. Niemals würde sie auch nur eine Zeile davon lesen!
Sie strich noch einmal über den Stapel – da verrutschte das Deckblatt, und schneller, als sie wegschauen konnte, sprang ihr der Titel entgegen:
Die Prinzessin Mirzoza und der Sultan Mongagul.
Beim Anblick der Buchstaben erfassten sie die widersprüchlichsten Gefühle; sie spürte ein süßes und gleichzeitig schmerzliches Dahinschwinden ihrer Willenskraft, eine Empfindung, die ihr früher im Kloster schon, in langen Nächten sehnsuchtsvoller Einsamkeit, manchmal die Sinne verwirrt hatte. Und ohne zu wissen, was sie tat, begann sie zu lesen.
»Der Palast des Sultans erhob sich in der Wüste der Traurigkeit, wo statt süßem Wasser salzige Tränen die Brunnen speisten, sodass der Herrscher Mongagul umso quälenderen Durst litt, je öfter er davon trank. Nur ein Lächeln würde ihn von diesem Fluch befreien. Doch vergeblich bemühten sichdie Narren am Hof, ihn aufzuheitern, nicht einmal die reizendsten Jungfrauen seines Reiches, die der berühmte Magier Cucufa mit seinem Zauberring herbeibefahl, damit sie den Gebieter umgarnten, konnten Mongagul von dem großen Kummer erlösen. Eines Tages aber klopfte eine junge Prinzessin an die Pforte seines Palastes. Mirzoza war ihr Name, sie stammte aus der entferntesten Provinz des Reiches, der kleinsten und zugleich schönsten Provinz, der Provinz der Glückseligkeit. Ihr Haar loderte wie die Flammen eines Feuers, und bei sich trug sie eine dampfende Schale süßer Schokolade. Das war die Medizin ihrer Heimat, die wollte sie dem Herrscher bringen …«
Mit klopfendem Herzen las Sophie weiter, Seite um Seite, tauchte ein in die Geschichte, während sie die Wirklichkeit rings um sich her vergaß, verzaubert von einer Welt, die ihre eigene war und ihr dennoch so fremd wie die Welt in einem Märchen. Sie merkte nicht, dass die Lampen im Lokal eine nach der anderen erloschen, spürte nicht die Kühle der Nacht, die allmählich durch die Ritzen der Fenster kroch, hörte weder das Knarren der Tür noch die nahenden Schritte. Während ihre Lippen die Worte und Sätze flüsterten, als spräche sie ein Gebet, erlebte Sophie am eigenen Leibe, in ihrem Herzen und in ihrer Seele, was in der Geschichte geschah, die Ereignisse, die Gefühle, sie hoffte und bangte mit der Prinzessin, als wäre Mirzoza niemand anderes als sie, teilte ihre Tränen und ihr Lachen, ihre Sorgen und ihre Lust, vor allem aber ihre Liebe.
»Du kannst ja lesen!«
Sophie schrak zusammen, als wäre ihr jemand im dunklen Keller begegnet. Vor ihr stand Diderot, ein freudiges Staunen im Gesicht.
»Lesen?«, stammelte sie, sein Manuskript in der Hand. »Ich? Wieso? Ja … nein … das heißt …«
Sie war so durcheinander, dass sie gleichzeitig nickte und den Kopf schüttelte. Diderot blickte sie an, mit seinen blauen Augen. Ohne ein Wort zu sagen, steckte er das Manuskript in seine Manteltasche, nahm sie bei der Hand und führte sie hinaus.
Draußen war eine mondhelle Nacht. Die Sterne schienen so klar und nah vom Himmel, als könne man sie mit Händen greifen. Schweigend gingen die zwei Seite an Seite in Richtung der Seine. Die Straßen waren fast menschenleer. Während sie sich dem Fluss näherten, wartete Sophie darauf, dass Diderot anfing zu sprechen, aber er tat es nicht. Er hielt einfach nur ihre Hand, ein warmer, fester Griff, als würden ihre Hände schon immer zusammengehören, hielt ihre Hand in der seinen und begleitete sie durch die
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