Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
»Obwohl ich dir drei Kinder geboren habe! Was für eine Schande! Bin ich nicht gut genug für dich? Nachdem ich alles für dich aufgegeben habe? Meinen Beruf! Das Geschäft meiner Mutter! Nur wegen deiner Eifersucht musste ich den Laden schließen! Weil du es nicht ertragen konntest, wenn ein Kunde mich anlächelte!«
    »Du hast dich den Kunden an den Hals geworfen«, erwiderte Diderot, immer noch die losen Blätter auflesend. »Du hast um sie gebuhlt, mich bei den Leuten lächerlich gemacht …«
    »Eingesperrt hast du mich! Wie eine Nonne! Kaum, dass ich auf die Straße durfte – immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit! Sieh her, meine Hände, lauter Schwielen und Blasen! Hände wie ein Waschweib!«
    »Nicht einen Sou behalte ich für mich! Alles Geld, das ich verdiene, gebe ich dir!«
    »Deinen Weibern schenkst du es, und ich weiß nicht, wie ich unsere Kinder satt kriegen soll. Zwei sind schon gestorben, weil wir nichts zu essen haben! Aber Monsieur trinkt Schokolade im Café, wie ein vornehmer Herr.« Wieder brach ihre Stimme, und schluchzend fuhr sie fort: »Anderen versprichst du das Paradies auf Erden, und uns machst du das Leben zur Hölle. Ich werde deinem Vater schreiben und ihn bitten, uns in sein Haus aufzunehmen.«
    Endlich hatte Diderot die letzte Seite seines Manuskripts aufgehoben. Als er sich aufrichtete, sah er seinen Sohn: Das Gesicht von Tränen verschmiert, streckte der Kleine die Händchen nach ihm aus. Ein Augenblick seiner Kindheit fiel ihm ein. Es war über zwanzig Jahre her, doch er erinnerte sich,als wäre es gestern gewesen. Er war von der Schule nach Hause gekommen, über und über mit Preisen beladen, auf den Schultern trug er einen viel zu großen Lorbeerkranz. Sein Vater arbeitete gerade am offenen Fenster. Als er ihn von weitem sah, ließ er sein Werkzeug liegen und weinte vor Freude.
    Diderot musste schlucken. War das nicht alles, was er im Leben wollte? Ein guter Sohn sein, ein guter Vater? Ohne die Vorwürfe zu hören, die Nanette ihm entgegenschleuderte, breitete er die Arme aus, um seinen Sohn an sich zu drücken – da erblickte er Madame de Puisieux. Sie kam mit gerafften Röcken aus der Richtung des »Procope« gelaufen.
    Diderot wusste, was nun geschehen würde, doch unfähig, sich zu rühren, konnte er das Schauspiel nicht verhindern. Wie zwei Furien fielen die beiden Frauen übereinander her, zogen sich an den Kleidern und Haaren, während sie sich mit den hässlichsten Worten beschimpften, ohne Rücksicht auf das Kind, das vor Angst laut aufkreischte.
    Plötzlich packte Diderot die Wut. Warum versuchte er immer wieder, es allen Menschen recht zu machen, nur nicht sich selbst?

15
     
    »Credo in unum Deum. Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae …«
    Voller Inbrunst sprach Sophie die Gebete ihrer Kindheit, das Vaterunser und das Credo, das Bekenntnis ihres katholischen Glaubens, aber sie konnte den Ausgang aus dem Labyrinthnicht finden. Jede neue Gasse führte noch tiefer in den Irrgarten hinein, dieses unentflechtbare Gewirr ineinander verschlungener Pfade, das ihr Leben war, ohne dass sich irgendwo eine Lichtung auftat.
    Während sie mit bloßen Füßen auf dem Boden kniete, wie sie es als Kind schon beim Beten getan hatte, drangen von draußen Katzenlaute in ihre Kammer. Doch dies war nicht das Miauen eines verliebten Katers, sondern das Wehgeschrei eines verendenden Tieres. Fast jede Nacht quälten die Druckerlehrlinge in der Nachbarschaft streunende Katzen, weil die Tiere sie mit ihrem Gejaule um den Schlaf brachten, stießen sie vom Dach oder schlugen sie tot.
    »… visibilium omnium et invisibilium. Et in unum Dominum Jesum Christum …«
    Sophie hörte nicht auf, die fremden und gleichzeitig vertrauten Laute zu flüstern, ihre ganze Verzweiflung strömte darin ein. Wie konnte nur passieren, was passiert war? Sie wusste doch, hatte es immer gewusst, was mit Frauen geschah, die sich in solche Männer verliebten. Diderot war gefährlich, so gefährlich wie ihr Vater Dorval, ein verheirateter Mann, der Geschichten erfand und sogar eigene Bücher schrieb. Und dann dieses Gerede von Gott und vom Himmel, vom Paradies und von der Liebe und vom Glücklichsein … Hatte ihre Mutter sie nicht genau vor solchen Männern gewarnt?
    Draußen schrie die Katze zum letzten Mal. Dann war alles still. Sophie schaute auf, aber sie sah nur ihr eigenes Gesicht in der Spiegelscherbe, die sie an der Wand befestigt hatte: rotes Haar und Sommersprossen … Sollte sie so werden wie ihre

Weitere Kostenlose Bücher