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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Nacht. Und je länger sie nebeneinander gingen, desto ruhiger wurde sie.
    Als sie die Seine vor sich im Mondschein schimmern sah, fragte Sophie: »Haben Sie schon viele solcher Geschichten geschrieben?«
    »Nein«, sagte er. »Diese Geschichte ist nur für dich. Weil du sie mir geschenkt hast.«
    »Ich? Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Geschichte erfunden!«
    »Das ist ja der Zauber, die Magie. Ein Lächeln, ein Augenzwinkern von dir, und schon entsteht ein ganzer Roman.« Er blieb stehen und schaute sie an. »Warum hast du behauptet, du könntest nicht lesen?«
    Sie schlug die Augen nieder und schwieg.
    »Aus Angst vor den Büchern? Oder aus Angst vor mir?«
    »Beides«, sagte sie leise.
    »Aber das brauchst du nicht! Wer Angst vor Büchern hat, hat in Wirklichkeit Angst vor dem Leben!«
    Sophie zögerte. War das der Moment, ihm die Wahrheit zu sagen? »Ich habe einmal einen Mann gekannt«, sagte sie schließlich, »ich weiß nicht, wie er hieß, ich erinnere mich nur, dass er einen Federhut trug. Er hat eine Frau angezeigt, weil sie Bücher besaß. Die Frau musste deswegen …«
    »Trage ich etwa einen Federhut?«, unterbrach Diderot sie lachend. »Ich trage nicht mal eine Perücke. Also gibt es keinen Grund, Angst vor mir zu haben.« Er nahm ihre Hände und drückte sie. »Weißt du, warum ich Bücher schreibe? Weil ich glaube, dass kein Mensch vor irgendeinem anderen Menschen Angst haben sollte. Weil ich glaube, dass das Leben in Wirklichkeit viel schöner sein kann, als es für die meisten Menschen ist. Und weil ich glaube, dass jeder Mensch das Recht hat, schon auf dieser Welt glücklich zu sein, nicht erst im Jenseits.«
    »Möchten Sie nicht wissen, wer die Frau war?«, fragte Sophie.
    »Und was mit ihr passierte?«
    Er schüttelte den Kopf, dann streichelte er ihre Wange, so zart, dass er sie kaum berührte. »Vergiss, was früher war! Vergiss deine Angst vor den Büchern! Vergiss, was dieser Abbé dir erzählt hat! Die Priester warnen vor den Büchern, weil sie selber Angst vor ihnen haben. Weil die Bücher ihre Lügen entlarven.«
    »Aber es war keine Lüge, sondern Gottes Wille! Ich habe selbst gesehen, wie die Frau damals …«
    »Psssst«, machte er und legte seinen Finger auf ihre Lippen. »Glaubst du wirklich, dass alles, was geschieht, Gottes Wille ist? Wenn du im ›Procope‹ das Tablett fallen lässt? Oder ein Gast sich eine Pfeife ansteckt?«
    »Aber«, wandte sie ein, »Gott ist doch der Allmächtige. Da kann es doch gar nicht sein, dass etwas ohne seinen Willen geschieht.«
    »Das behaupten die Leute, die möchten, dass alles so bleibt, wie es ist.« Diderot schüttelte erneut den Kopf. »Wir haben keine Ahnung, wer Gott ist und was er will. Wenn wir ihn sehen oder hören oder wenigstens ertasten könnten – auf der Stelle würde ich vor ihm niederfallen und sagen: ›Dein Wille geschehe!‹ Aber so? Wir wissen ja nichts von ihm, wir kennen nur unsere eigenen Ideen, die Bilder, die wir uns von ihm machen. Hat er wirklich einen so langen weißen Bart, wie auf den Gemälden in den Kirchen? Oder könnte es vielleicht sein, dass er sich jeden Morgen rasiert?«
    »Wie der Sultan Mongagul seinen Schokoladenbart?«
    »Siehst du?«, sagte Diderot, als er ihr Lächeln sah. »Egal, wie wir uns Gott vorstellen, es ist immer ein bisschen komisch. Die Bilder, die wir uns von ihm machen, sind nicht wahrer oder falscher als irgendwelche erfundenen Romane oder Geschichten. Und darum glaube ich, dass Gott, wenn es ihn gibt, uns die Wahl lässt. Wir dürfen selber entscheiden, wie wir leben wollen. Wir müssen nur den Mut haben, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.«
    Er zog sein Manuskript aus der Manteltasche und reichte es ihr.
    »Ich möchte, dass du das nimmst.«
    »Aber …«, stammelte sie, überrascht von dem plötzlichen Geschenk, »ich … ich kann doch gar nicht …«
    »Natürlich kannst du!«, erwiderte er. »Es ist unsere Geschichte. Sie gehört dir. Ich möchte, dass du sie liest.«
    Als sie seine Aufzeichnungen in die Hand nahm, war es, als sei es ihr eigenes Leben. Plötzlich sah sie ihre Mutter vor sich,ihre Gestalt, sogar Konturen ihres Gesichts, verschwommen zwar, doch unverkennbar: ihre Augen, ihr Mund, das letzte Wort auf ihren Lippen: »Glück …« Hatte sie die Botschaft all die Jahre über missverstanden? Wollte ihre Mutter sie damals nicht vor dem Glück warnen, sondern zu ihrem Glück ermutigen? Dass sie keine Angst haben sollte? Weder vor den Büchern, noch vor der

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