Die Philosophin
verschwanden, stand Sartine eilig auf. Doch als er seinen Stock nahm, fiel sein Auge auf das Manuskript, das Diderot hatte liegen lassen. Wie eine stumme Aufforderung blickte der einsame Stapel ihn an. War das eine Gelegenheit? Ein Wink? Bei dem Gedanken, dass der Packen Papier vielleicht die Schweinereien enthielt, nach denen Malesherbes fahndete, spürte Sartine so etwas wie Erregung in seinem bedürfnislosen Leib. Ganz von allein griff seine Hand nach dem Manuskript.
»Gehört das nicht Monsieur Diderot?«
Sophie schaute ihn an wie einen Taschendieb, der gerade eine Börse stahl.
»Ich … ich wollte das nur in Gewahr nehmen. Aber bitte sehr, wenn lieber Sie …«
Ohne den Satz zu Ende zu sprechen, reichte Sartine ihr das Manuskript, als wäre es ihr Eigentum. Dann legte er die sechs Sou für seinen Tee auf den Tisch, um das Lokal zu verlassen.
Als er die Tür erreichte, hatte er sich wieder gefasst. Die Klinke in der Hand, drehte er sich noch einmal um und sagte: »Was meine Frage angeht, Mademoiselle Sophie – bitte treffen Sie bis Ende des Monats Ihre Entscheidung. Ich … ich kann nicht länger warten.«
12
»Du wolltest die Seelen der Menschen anrühren, sie zum Lachen und Weinen bringen, sie aufklären und wachrütteln – alles, was man mit Büchern vermag. Womit? Mit einem Artikel über das Suppenhuhn? Einer Abhandlung über die Taschenuhr? Dass ich nicht lache!«
Diderot hätte gern etwas erwidert, aber das war aussichtslos. Wenn Rousseau einmal in Rage war, gab es kein Halten. Sie waren inzwischen durch die halbe Stadt gelaufen, aber noch im Tuileriengarten, wo hinter den Taxushecken, kaum verborgen vor den Augen von Marquisen und Herzoginnen, die Flaneure in Ermangelung öffentlicher Toiletten ihre Notdurft verrichteten, wollte Rousseau sich nicht beruhigen. Er tat, was er immer tat: Er sprach, predigte, forderte.
»Freundschaft, Liebe – zählen unsere Ideale nicht mehr? Tugend, Freiheit, Fortschritt – alles überflüssig, nur weil Monsieur Le Bréton sich mit seinem Wörterbuch bereichern will? Dafür opferst du deine Bücher? Und so was nennt sich Dichter!«
Rousseaus ganzer Körper vibrierte vor Erregung. Er war kleiner als Diderot, reichte ihm kaum bis zur Schulter und wirkte an seiner Seite fast wie ein Jüngling. Obwohl sie einander schon mehrere Jahre kannten, beide aus der Provinz stammten, beide fast gleich alt und beide Söhne von Handwerkern waren, empfand Diderot seinen Freund stets als den Älteren und Erfahreneren, vor allem aber als den Überlegenen. Er bewunderte die Unversöhnlichkeit, mit der Rousseau von jedermann Umkehr und Abkehr verlangte, und die durch nichts zu erschütternde Überzeugung von sich und seinenIdeen. Eher mochte die Welt untergehen, als dass er von ihnen abrückte. Nicht einmal von dem fauligen Gestank, der über den Terrassen der Tuilerien schwebte, als wäre der königliche Vergnügungsgarten ein einziger Abort, ließ er sich beeindrucken.
»Ich weiß nicht«, sagte Diderot unsicher, »ob ich wirklich ein Dichter bin. Ein Dichter ist jemand, der seine Bestimmung ganz aus sich selber schöpft, um das Rätsel des Daseins zu lösen. Wenn ich das wäre – hätte ich dann meine Romane und Dramen nicht schon längst geschrieben?«
»Was soll das weibische Gewäsch? Du hast alle Gaben, die man braucht, um Großes zu erschaffen. Gefühl, Vernunft, Zorn!«
»Zorn? Auf wen?«
»Das fragst du nicht im Ernst! Auf die Gerichte, auf den Hof, auf die Pfaffen – auf die ganze korrupte Gesellschaft. Du selbst hast immer wieder den Wunderglauben kritisiert, die Verderbnis der Sitten entlarvt.«
»Nichts anderes verfolge ich mit der Enzyklopädie.«
»Soll ich dir sagen, was du mit ihr verfolgst? Eine jährliche Rente – das ist dein einziges Interesse. Pfui Teufel!«
Rousseau blieb stehen und schüttelte den Kopf wie ein Lehrer über seinen missratenen Schüler. Und wie ein missratener Schüler fühlte Diderot sich unter dem vorwurfsvollen Blick seines Freundes. Für einen Moment schwand sein ganzer Mut dahin. Hatte Rousseau vielleicht Recht? War die Entscheidung für die Enzyklopädie in Wirklichkeit Verrat an seinem eigenen, noch ungeschriebenen Werk?
»Es ist nicht das Geld«, sagte Diderot lahm. »Die Enzyklopädie ist ein Sturmgeschütz der Vernunft, eine Armada der Philosophie, eine Kriegsmaschine der Aufklärung …«
»Mir machst du nichts vor«, unterbrach ihn Rousseau. »Duhast deine Nanette, ich habe meine Thérèse, ich weiß, wovon ich
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