Die Philosophin
Liebe?
Als würde er ihre Gedanken erraten, sagte Diderot: »Das Leben ist schöner als jeder Himmel. Soll ich es dir beweisen?«
Dabei kam er ihr mit seinem Gesicht so nahe, dass sie die Wärme seiner Haut zu spüren glaubte. Die Mücken in ihrem Nacken summten, als sie in seine hellen Augen schaute.
»Wie?«, fragte sie leise, obwohl ihr Körper es längst wusste.
Statt einer Antwort küsste er sie. Dann geschah alles von allein. Als seine Lippen sie berührten, schloss sie die Augen, und auf einmal war es, als würden ihm tausend Arme wachsen, um sie zu umfangen, tausend Hände, um sie zu liebkosen, tausend Münder, um sie zu küssen. Die Welt schwand zugleich mit ihren Sinnen, sie lebte nur noch in diesem einen Kuss: Sie war im Paradies.
»Was hat das zu bedeuten?«
Eine schrille, scharfe Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sophie schlug die Augen auf. Vor ihr stand eine blonde Frau, hübsch wie ein Posaunenengel, doch wütend wie ein Fischweib. Auf dem Arm trug sie ein schlafendes Kind.
»Madame de … Puisieux?«, fragte Sophie, nachdem sie ihre Sprache wiedererlangt hatte.
Diderot schüttelte den Kopf. Seine breiten Lastenträgerschultern waren eingefallen, sein kleiner Kopf ruckte wie der eines Vogels vor einem Gewitter. Er wagte kaum, ihren Blick zu erwidern.
»Madame de Puisieux? Seine Mätresse?«, kreischte die Fremde. »Wie? Was?« Sie trat Diderot ans Bein und stieß ihn mit der Faust vor sich her. »Los, sag der kleinen Metze, wer ich bin, vorwärts, damit sie Bescheid weiß! Oder soll ich es ihr sagen?«
»Das ist«, stotterte er schließlich, »das ist – meine Frau.«
Obwohl die Straßenlaternen immer noch brannten, war es auf einmal finstere Nacht. Der Boden unter Sophies Füßen schwankte, die Sterne am Himmel schienen zu tanzen, und plötzlich trug Diderot einen Hut, aus dem eine bauschige Feder in die Höhe wuchs.
Ohne ein Wort warf sie ihm sein Manuskript vor die Füße.
14
»Hier treibst du dich rum! Mit fremden Weibern! Die ganze Stadt habe ich nach dir abgesucht!«
Die Vorwürfe, mit denen Nanette ihn überschüttete, trafen Diderot wie ein Schwall kaltes Wasser.
»Bis Mitternacht habe ich auf dich gewartet, im Kaffeehaus nach dir geschaut, aber da war alles dunkel. Der Hausbesitzer war da, er will seine Miete! Er droht mit dem Gerichtsvollzieher!«
»Warum denn das? Wir haben die Miete doch bezahlt …«
»Die erste Rate! Weil ich meinen Morgenmantel verkauft habe, während du dich in deine Dachkammer verkrochen hast. Auf der Straße würden wir sitzen, wenn ich mich nicht um alles kümmern würde. Was bist du nur für ein gemeiner Mensch!«
Ihre Stimme brach in einem Schluchzen. Diderot wollte den Arm um sie legen. Doch kaum berührte er ihre Schulter, flammte Nanettes Zorn wieder auf. Sein schlechtes Gewissen schien ihr neue Kraft zu geben.
»Seit wir verheiratet sind, betrügst du mich! Alle Versprechungen hast du gebrochen! Dein eigener Vater würde dich verfluchen, wenn er das Elend sähe, das du über uns gebracht hast!«
Von dem Geschrei wachte das Kind auf ihrem Arm auf und begann zu weinen. Während Nanette versuchte, ihren Sohn zu beruhigen, bückte sich Diderot, um die Blätter seines Manuskripts aufzusammeln. Das war seine Geschichte, die da im Nachtwind davonzuwehen drohte – die einzig wahre Geschichte seines Lebens. Sollte er sie für den Schundroman seiner Ehe opfern?
Während er den losen Seiten nachsetzte, brach das ganze Elend mit Nanette in ihm auf. Wie hatte er um diese Frau gekämpft! Er hatte sie im Geschäft ihrer Mutter kennen gelernt, einer Weißnäherin, und noch am selben Tag drei Hemden bei ihr gekauft, obwohl er sich das Geld dafür im Pfandhaus hatte leihen müssen. Wegen ihrem hübschen Putzmacherinnengesicht hatte er sich mit seinem Vater zerstritten, den er verehrte wie keinen zweiten Mann auf der Welt, hatte ihn hintergangen, um Nanette in aller Heimlichkeit zu heiraten. Für ihre Zärtlichkeiten hatte er sich als Kanzleischreiber verdingt, seine Feder an Missionare und Zeitungsschmierer verkauft, nur damit sie sich nicht mehr für fremde Leute die Finger zerstechen musste. Und wozu? Ihre Dummheit stieß ihn im selben Maße ab, wie ihr körperlicher Liebreiz ihn anzog, so dass sich ihre Liebe in atemlosen nächtlichen Umarmungen erschöpfte, für die er sich am Morgen selbst verfluchte. Fastwünschte er sich, die Natur hätte sie weniger großzügig bedacht.
»Nicht mal deinen Namen darf ich tragen!«, keifte sie.
Weitere Kostenlose Bücher