Die Philosophin
natürliche Grenzen. So steht es schon in der Heiligen Schrift: ›Eure Unterordnung sei vernünftig.‹«
»In der Heiligen Schrift steht aber auch: ›Alle Macht, die von Gott kommt, ist wohlgeordnet.‹«
»Heißt das, alle Macht, wie immer sie auch sei, kommt von Gott? Gibt es keine ungerechte Herrschaft? Haben die Usurpatoren Gott auf ihrer Seite? Wenn das so wäre, würde daraus nicht folgen, dass selbst die Macht des Antichrist, wo immer er sie erlangt, rechtmäßig wäre? Und müssten Enoch und Elias, die ihr widerstanden haben, dann nicht als Aufrührer und Unruhestifter gelten? Oder sind sie nicht vielmehr vernünftige,unerschrockene und vor allem fromme Männer, die wie Paulus denken, dass jede Macht nur von Gott stammt, solange sie gerecht und wohlgeordnet ist?«
Diderot sprach mit solcher Hingabe, mit solchem Eifer, dass Radominsky ihm seine Achtung nicht versagen konnte. Was für eine überbordende Bildung! Was für ein verschwenderischer Einfallsreichtum! Jedes seiner Worte begleitete er mit einer Geste, er ballte die Faust, um seine Argumente zu betonen, zeigte gar mit ausgestrecktem Arm auf sein Gegenüber, sodass sich seine Rede in ein Schwert zu verwandeln schien. Hier war ein Mann, der an das glaubte, was er sagte! Wie beseelt von seiner Botschaft, hielt ihn nichts an seinem Platz. Er ging in der Zelle auf und ab, setzte sich, sprang wieder auf, während die Worte aus ihm hervorsprudelten, als habe seine Zunge Mühe, all die Gedanken so schnell auszusprechen, wie sein Hirn sie gebar. Radominsky begriff: Statt diesen Mann in Gottes Namen zu vernichten, war es seine Pflicht, ihn für die Sache Gottes zu gewinnen.
»Ich erkenne mit Freuden«, sagte er, »dass Sie die Worte des Herrn zitieren. Auch wenn Stolz und Hochmut Ihnen vielleicht etwas anderes einflüstern, tief in Ihrem Innern wissen Sie es selbst: Sie sind einer von uns, doch Sie kämpfen auf der falschen Seite.«
»Ich kämpfe auf der einzig richtigen Seite – auf der Seite der Vernunft.«
»Vielleicht, aber warum begnügen Sie sich dann mit deren bloßen Widerschein, statt aus der Quelle selbst zu schöpfen?«
»Sie reden, wie es Ihrer Zunft entspricht, Hochwürden – in Rätseln.«
»Dann will ich mich klarer ausdrücken. Sie kommen zu spät, Monsieur Diderot – Ihre Enzyklopädie ist längst erschienen,verfasst von einem Autor, dem Sie das Wasser nicht reichen können.«
Diderot erblasste. Mit ungläubigen Augen blickte er den Pater an, wie ein Mann, der von einer Reise zurückkehrt und erfährt, dass während seiner Abwesenheit sein Haus ausgeraubt worden sei.
»Wo ist dieses Buch erschienen? In England? In Deutschland?«
»In allen Ländern der Erde, in Afrika und Asien und Amerika ebenso wie in Europa, ja sogar im eben erst entdeckten Australien. Es gibt keinen Fleck und keinen Winkel auf der Welt, den dieses Buch nicht schon erreicht hat.«
»Und warum«, fragte Diderot irritiert, »habe ich dann noch nicht von diesem Buch erfahren?«
»Weil Sie, der Sie nicht müde werden, die Sinne als Quelle der Erkenntnis zu preisen, Ihre eigenen Augen vor der Wahrheit wie mit Pech verschließen.« Er packte Diderot am Rock und führte ihn an das Zellenfenster. »Da, öffnen Sie die Augen! Die Welt selbst ist das Buch, von dem ich rede – das Buch der Schöpfung. Dieses Buch ist die einzige gültige Enzyklopädie, verfasst vom Heiligen Geist, es ist der ewig wahre Text, den Gott der Herr, der Archienzyklopädist, uns zu lesen aufgab.«
Draußen sahen sie die Wiesen und Felder, eingehüllt vom Dunst wie von einem feinen Gazeschleier.
»Dann haben wir vielleicht dasselbe Buch vor Augen«, sagte Diderot nach einer Weile. »Es gibt nur einen Unterschied: Sie nennen es das Buch der Schöpfung, ich nenne es das Buch der Natur. Und ich begreife es als meine Aufgabe, den Nebelschleier fortzureißen, der sich in Jahrhunderten über die Seiten dieses Buches gelegt hat, gewoben aus Irrlehren,Dogmen und Vorurteilen, die uns daran hindern, die Worte richtig zu lesen.«
Radominsky schüttelte den Kopf. »Sie sind so nahe an der Wahrheit – und doch weigern Sie sich, sie zu fassen. Warum, Monsieur Diderot, diese Verstocktheit? Wollen Sie den Menschen denn ein blinder Blindenführer sein? Wenn wir das Buch der Schöpfung nicht lesen können, dann nur aus einem Grund: weil wir den Text mit unseren Sünden besudelt haben, der Perversion des freien Willens, in der wir Gott Tag für Tag zuwiderhandeln. Darum vermögen wir die Schrift nicht mehr
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