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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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wuchtigen, mit rotem Leder bezogenen Stühlen behaglich zurückgelehnt, um ein Nickerchen zu halten, bevor die Wortgefechte und Redeschlachten der neuen Nacht einsetzten.
    Sophie nutzte die Pause, um die Arbeiten zu erledigen, die im hektischen Betrieb des Nachmittags liegen geblieben waren. Während sie am Tresen Gläser polierte und diese zusammen mit frisch gespülten Tassen und Tellern in die Regale einräumte, war sie in Gedanken bei ihrem Mann. Sartine war vor einer Stunde nach Beaulieu aufgebrochen. Er hatte am Mittag völlig überraschend Urlaub bekommen und die Nachtkutsche nach Dijon genommen, von wo aus er weiter in Richtung Süden fahren wollte. Wenn alles gut ging, würde er in zwei Tagen am Ziel sein.
    Die Vorstellung, dass Sartine in ihrem alten Dorf Nachforschungen anstellte, erfüllte Sophie mit einer Mischung aus Nervosität und Hoffnung. Wer von den Menschen, die damals den Prozess gegen ihre Mutter miterlebt hatten, war wohl noch am Leben? Abbé Morel war schon ein alter Mann gewesen, als sie ihre Heimat verlassen hatte, und Baron de Laterre zählte auch kaum weniger Jahre. Und wenn sie noch lebten – würden sie bereit sein, Sartine Auskunft zu geben,um Licht in das Dunkel zu bringen? Damit Sophie endlich die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter erfuhr, den Namen jenes fremden Zeugen, der Madeleine auf dem Gewissen hatte? Bei dem Gedanken, dass sie vielleicht bald schon wissen würde, wer der Mann mit dem Federhut war, wurde Sophie ganz seltsam zumute.
    Plötzlich ging die Tür auf, und ein Mann stürzte herein, aufgeregt und außer Atem, als würde er von einer Meute Straßenhunde verfolgt. Sein Anzug sah aus, als wäre er seit Monaten nicht gereinigt worden, und seine runde Perücke war ihm halb vom Kopf gerutscht. Sophie kannte ihn, er war Stammgast im »Procope«, ein Mann mit einer seltsam kehligen Aussprache, der beim Reden manchmal ins Stottern geriet: der Schweizer Schriftsteller Rousseau.
    »Sie ha-ha-haben Diderot verhaftet!«
    Er rief die Nachricht so laut in das Lokal, dass alle Köpfe sich nach ihm umdrehten. Die Schachspieler schauten von ihren Tischen auf, die Zeitungsleser lugten über den Rand ihrer Blätter, und die Schläfer erwachten auf ihren Stühlen. Auf einmal war das ganze Kaffeehaus in heller Aufregung wie sonst nur am Monatsbeginn, wenn der Mietzins fällig wurde.
    »Diderot, verhaftet?«
    »Unmöglich! Ich hab ihn doch gestern gesehen!«
    »Wann ist das passiert? Wo?«
    »Heute Morgen«, rief Rousseau. »Mitten bei der Arbeit.«
    Sophie legte ihr Geschirrtuch beiseite, während die Fragen und Rufe wie Hagel auf Rousseau niederprasselten, der Mühe hatte, mit den Antworten nachzukommen. Sophie spürte, wie ihr Herz klopfte. Fast zwei Jahre war es her, dass sie Diderot zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Einfach entführt?«
    »Wie bei der Inquisition?«
    »Aber warum? Was wirft man ihm vor?«
    »Er soll irgendeinen albernen Roman geschrieben haben. Pornografisches Zeug, ein orientalisches Märchen – was weiß ich!«
    »Und wo ist er jetzt?«
    »Im Kerker. Sie haben ihn nach Vincennes gebracht. Im vergitterten Kutschwagen.«
    »Nach Vincennes? Das ist ja schlimmer als die Bastille!«
    »Ja, eine Katastrophe. Aber das ist nicht alles.« Rousseau hob beide Hände und wartete mit flackernden Augen darauf, dass der Lärm sich legte. Erst als kein Ton mehr zu hören und alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, fuhr er fort: »Le Bréton hat ihn verraten – sein eigener Verleger!«
    Ein empörtes Raunen ging durch das Kaffeehaus.
    »Nein! Das ist nicht wahr!«
    »Das würde er nie tun!«
    »Doch! Die Polizei hat im Verlag überprüft, von wem der Roman stammt. Und das Schwein hat alles zugegeben.«
    Die Nachricht verschlug den Zuhörern die Sprache. Ungläubig starrten sie Rousseau an, der nun den Hergang der Dinge berichtete, mit dem Akzent seiner Genfer Heimat, erst stockend, dann schneller und schneller, bis schließlich die Worte nur so aus ihm heraussprudelten, uferlos. Während er sprach, regte sich in Sophie ein kleiner, böser Verdacht, der mit jedem seiner Sätze größer und größer wurde: Hatte Sar-tine deshalb so unverhofft Urlaub bekommen? Als Belohnung?
    Plötzlich, mitten im Redeschwall, verstummte Rousseau und schaute in die Runde, verunsichert und scheu, als hätte ihn jemand beleidigt.
    Ohne zu überlegen, was sie tat, trat Sophie hinter dem Tresen hervor und sagte: »Entschuldigung, Monsieur…«
    »Was ist?«, herrschte Rousseau sie an. »Kannst du mit

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