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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Frage«, sagte Radominsky. »Wer besitzt in diesem Land am meisten?«
    »Der König natürlich.«
    »Sehr richtig. Doch glauben Sie, er wünscht sich darum die unabänderliche Fortdauer seines Daseins, nur weil er alles hat? Nein, das einzige Glück des Königs ist es, sich selbst zu vergessen. Denn niemand empfindet so tief wie er: Wer alles hat, hat in Wahrheit das Wertvollste verloren – die Hoffnung auf Erlösung.«
    Radominsky verstummte und sah Diderot an. Der erwiderte seinen Blick, doch ohne weiter zu protestieren. Nervös nestelte er an seinem Rock, als würde ihn etwas zwicken. Hatte er die Botschaft endlich verstanden?
    »Kommen Sie auf unsere Seite, Monsieur Diderot!«, sagte Radominsky. »Helfen Sie uns, das Werk Gottes von den Flecken der Sünde zu reinigen! Zeichnen wir gemeinsam das Buch der Schöpfung nach! Wir zwei, Sie und ich, haben den Verstand und die Gnade, die einzige Enzyklopädie zu schreiben, die Gottes Willen entspricht, ein Kompendium der ewigen Wahrheit. Nicht für das gemeine Volk, sondern für die Elite, die Besten der Besten, die Auserwählten des Herrn.« Er reichte ihm seine Hand. »Schlagen Sie ein – und Sie sind ein freier Mann!«
    Diderot schaute ihn an, als würde er ihn erst jetzt wirklich sehen.
    Radominsky nickte ihm aufmunternd zu. »Worauf warten Sie? Bauen Sie mit mir die Hochburg des Heiligen Geistes!«
    Nichts in Diderots Gesicht verriet, was in ihm vorging. Nach einer langen Weile, die dem Pater wie eine Ewigkeit erschien, öffnete er schließlich die Lippen.
    »Habe ich Sie richtig verstanden? Sie bieten mir an, das Gefängnis mit Ihnen zu verlassen, wenn ich einschlage?«
    »Ja. Gott hat Sie mit zu vielen Talenten gesegnet, als dass sie hier in diesem Turm verkommen dürfen.«
    »Und all die anderen Gefangenen, die Gott bei ihrer Geburt weniger gütig bedacht hat – was ist mit denen?«
    Radominsky zuckte die Schultern. »Es ist allein Ihre Entscheidung, Monsieur Diderot. Und wenn Sie mit mir kommen – wer weiß, vielleicht kann ich ja für den einen oder anderen Häftling…«
    Die Worte zerfielen auf seinen Lippen wie modrige Pilze.
    Denn während er sprach, verengten sich Diderots Augen zu zwei Schlitzen, sein heller klarer Blick verfinsterte sich, als stünde vor ihm der Versucher, und so leise, dass seine Stimme kaum zu hören war, sagte er: »Verlassen Sie sofort diesen Raum!«

12
     
    Kaum hatte die Zellentür sich hinter Radominsky geschlossen, schwanden Diderot die Kräfte. Müde wie ein alter Mann sank er auf seine Pritsche, und während die Schritte auf dem Gang sich entfernten, legte sich die Schwermut auf sein Gemüt wie draußen die Dämmerung auf den dahinschwindenden Tag. Er war am ganzen Körper betäubt, gelähmt, spürte nicht mal das Zwicken und Kratzen seiner dreckigen, stinkenden Kleider.
    Ein Geräusch weckte ihn aus seiner Erstarrung. Die Türklappeging auf, dahinter erschien das Bulldoggengesicht des Wärters.
    »Da – für Sie! Eine Kerze.«
    »Wozu brauche ich eine Kerze? Es ist Sommer, ich habe genug Licht.«
    »Ich würde sie trotzdem nehmen«, sagte der Wärter und fletschte die Zähne. »Die Tage werden bald kürzer. Bis zum Winter dauert es nicht mehr lange.«
    Die nächsten Wochen verbrachte Diderot in tiefer Nieder-geschlagenheit. Nur ein Gedanke kreiste immer wieder durch seinen Kopf, ein Gedanke, der seit seiner Verhaftung wie eine Ratte an seiner Seele nagte. Hunderte Male hatte er ihn verscheucht, doch jetzt konnte er die Wahrheit nicht länger leugnen: Er war verhaftet worden, weil Sophie ihn verraten hatte.
    Diese Wahrheit war schlimmer als jede Lüge. Stundenlang blieb er auf der Pritsche liegen, um reglos gegen die Decke zu starren, dann wieder lief er wie ein Tier im Käfig auf und ab, rannte gegen die Tür seiner Zelle und stieß mit dem Kopf gegen das Gitter, bis seine Stirn zu bluten begann. Doch nichts half ihm, die Wahrheit zu vergessen. Er verfluchte den Tag, da er Sophie begegnet war, verfluchte ihre Worte, ihre Blicke, mit denen sie ihn verführt hatte, verfluchte den Kuss, in den er zusammen mit ihr hinabgestürzt war. Sie hatte sein Leben zerstört: ihn selbst, seine Familie, sein Werk. Kein Kuss war einen solchen Preis wert.
    Seine einzige Ablenkung waren die Kakerlaken. Während er jede Stunde, die er in Unfreiheit verbrachte, als Raub an seinem Leben empfand, suchten die Krabbeltiere, getrieben von einem dumpfen Instinkt, in immer größeren Scharen Zuflucht in seinem Kerker, als wäre das feuchte Gemäuer

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