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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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zu entziffern, wir können die heiligen Worte nur noch erahnen, als Schemen im unendlichen Meer der Verderbnis, wie Tintenschrift, deren Buchstaben auf dem Papier zerfließen, wenn man Wasser darüber gießt.« Er wandte sich vom Fenster ab und legte Diderot eine Hand auf die Schulter. »Statt eine neue Enzyklopädie zu schreiben, die doch niemals an das Original heranreichen wird, ist es unsere Aufgabe, das Buch der Schöpfung wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen, diese Heilige Schrift von den Fehlern und Entstellungen zu reinigen, die wir Menschen ihr zugefügt haben, auf dass wir darin wieder die offenbarte Wahrheit Gottes lesen. Das ist die Aufgabe, unsere gemeinsame Aufgabe, Ihre und meine, die wir Gott und unserem Seelenheil schulden. Um einzugehen in das Reich des Herrn, von dem die Schöpfung hier auf Erden nur ein blasser Vorschein ist.«
    Diderot drehte sich zu ihm um. Aus seinen Augen sprach Verachtung.
    »Sie meinen das himmlische Paradies? Im Jenseits nach dem Tod?«
    »Mors porta vitae«
, erwiderte Radominsky ernst, »der Tod ist das Tor zum Leben. Denn das wahre Leben beginnt erst,wenn unsere vergängliche Hülle von uns abfällt. Ja, natürlich meine ich das Jenseits. Wo sonst gäbe es ein Paradies?«
    Diderot trat einen Schritt zurück, wie um sich von Radominskys Nähe zu befreien, während die Verachtung in seinen Augen wachsender Empörung wich. »Woher nehmen Sie das Recht, die Menschen auf das Jenseits zu vertrösten? Wie können Sie das wagen, angesichts des Elends und der Not, die hier auf Erden herrschen?«
    »Ich verstehe Ihr Mitleid für die Benachteiligten dieser Welt«, sagte Radominsky, »und glauben Sie mir, dass ich es teile. Aber ihr Leiden hat einen Sinn. Unser irdisches Dasein ist nur ein Dasein zur Bewährung. Es soll uns läutern für das ewige Leben. ›Mein Königreich ist nicht von dieser Welt‹, spricht der Herr. Wollen Sie an diesen Worten zweifeln?«
    »Nein, aber Gott ist in Gestalt Seines Sohnes zur Erde herabgestiegen. Warum hat Er das getan, wenn nicht zu dem Zweck, dass wir Sein Werk gemeinsam mit Ihm vollenden?« »›Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.‹« Radominsky nickte. »Ja, Sie haben Recht, kein Wesen hat sich je so sehr erniedrigt wie Gott, der für uns Mensch geworden ist. Mehr noch, Er hat sogar für uns im Dreck gewühlt, um Adam aus einem Klumpen Lehm zu formen, hat ihm mit Seinem Mund den Odem des Lebens eingehaucht. Doch sollen wir Ihm diese Selbsterniedrigung danken, indem wir uns über Seinen Willen erheben, uns Ihm gleich wähnen, um einzugreifen in Seinen ewigen Schöpfungsplan?«
    »Es ist nicht meine Absicht, mich über Gott zu erheben. Aber hat Gott den Menschen nicht einen klaren Auftrag gegeben? ›Füllet die Erde und machet sie euch untertan!‹ Statt auf das Jenseits zu hoffen, sind wir aufgerufen, Gottes Schöpfung fortzuführen und in einen Garten Eden zu verwandeln. Es istdarum nicht nur unser Recht, sondern sogar unsere Pflicht, mit Hilfe der Wissenschaft und aller Erfahrungen, die andere Menschen vor uns gemacht haben, das Leben auf Erden so einzurichten, dass wir uns selbst das höchste Gut bescheren können.«
    »Und was soll dieses höchste Gut sein?«
    »Glück!«, sagte Diderot, ohne eine Sekunde zu zögern. »Das Ende von Not und Entbehrung.«
    »Das nennen Sie das höchste Gut?«, rief Radominsky und lachte. »Glauben Sie das wirklich?«
    »Was sonst? Nur in dem Wunsch nach Glück sind sich alle Menschen einig.«
    »Wir sind nicht auf der Erde, um glücklich zu sein. Wir sind auf der Erde, um Gott zu gehorchen.«
    »Aber Gott selbst hat uns das Streben nach Glück eingegeben! Wozu?«
    »Um uns zu prüfen!«
    »Und warum verheißt er dann: ›Mein Volk soll meiner Gaben die Fülle haben‹? Ist das nicht die Verheißung des Glücks?«
    »Alles zu besitzen ist ein Fluch, weit schlimmer als jede Not und Entbehrung«, erwiderte Radominsky unbeirrt. »›Ich will in dir übrig lassen ein armes und geringes Volk; die werden auf des Herrn Namen trauen.‹ Zephanja drei, Vers zwölf. Nach dem Gesetz der Gnade ist der Mensch viel glücklicher durch das, was er erhofft, als durch das, was er besitzt. Das Glück, das er auf Erden genießt, ist allenfalls der Keim für ein ewiges Glück.«
    »Das behaupten immer nur diejenigen, die am meisten besitzen. Und aus welchem Grund? Um anderen Menschen eben das vorzuenthalten, was sie selbst nicht entbehren können.«
    »Dann beantworten Sie mir eine einfache

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