Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
ich schon das andere Ende des Tresens erreicht. „Ein Notfall. Bin so schnell wie möglich zurück. In zehn Minuten kommt die Mittagsschicht.“
Der Ausdruck auf Kennys Gesicht wechselte von Verdruss zu Verwirrung. „Was für ein Notfall? Du hast doch noch nicht mal ’nen Anruf gekriegt.“
Ist doch nichts Neues, dachte ich.
Im Auto zog ich mein Handy heraus, aber Ruthie meldete sich nicht, was mich allerdings nicht sonderlich überraschte. Manchmal fragte ich mich, wie sie es schaffte, die täglichen Anforderungen ohne Hilfe zu bewältigen.
Ruthie war uralt und schwarz; sie leitete ein Heim im Süden von Milwaukee mitten in einer Siedlung von Farmhäusern, die dort in den Fünfzigerjahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Hübsche Vorgärten. Gute Schulen. Und unzählige Namen, die auf „ski“ endeten.
Früher war Ruthie im Umkreis von dreißig Meilen die einzige Afroamerikanerin gewesen. Aber das hatte sie nie gekümmert und merkwürdigerweise auch sonst niemanden. So war Ruthie eben.
Menschen, die normalerweise bei einem… also, das Wort will ich lieber nicht in den Mund nehmen, die Straßenseite wechselten, schlossen sie ins Herz wie eine seit Langem verloren geglaubte Tante.
Heutzutage gab es auch andere Farbige in der Gegend, aber die meisten Namen endeten immer noch auf „ski“.
Zwanzig Minuten später hielt ich am Straßenrand vor dem zweistöckigen Haus und betrachtete es eine Weile. Alles schien ruhig zu sein. Warum auch nicht. Um diese Uhrzeit waren die Kinder in der Schule, vielleicht war Ruthie noch nicht einmal zu Hause.
Aber wenn ich das dringende Bedürfnis verspürte, Ruthie zu sehen, gab es immer einen verflucht guten Grund dafür, das hatte ich im Lauf der Jahre begriffen.
Ich stieg aus dem Wagen und ging auf das Haus zu.
Ruthie hatte nichts für Sperenzchen übrig – fast hatte man den Eindruck, sie entstamme einer Zeit, als Eltern ihre Kinder noch mit Liebe und fester Hand erzogen. Wen Ruthie einmal aufgenommen hatte, den gab sie niemals auf. Sie verstand, dass ein Teil der Schwierigkeiten von verlassenen Kindern aus ebendiesem Gefühl der Verlassenheit herrührte. Für mich war sie die einzige Mutter, die ich je gekannt hatte – vielleicht auch die einzige, an die ich mich erinnern wollte.
Erst am Fuß der Veranda bemerkte ich den winzigen Schatten, der durch die halb offene Tür auf den Betonboden fiel. Automatisch fuhr meine Hand zur Hüfte, an die Stelle, wo ich schon seit Monaten keine Waffe mehr trug. In diesem Moment fehlte sie mir mehr als je zuvor.
Gegen besseres Wissen drückte ich die Tür auf und rief in die Stille hinein: „Ruth…“
Mir blieb das Wort in der Kehle stecken, denn ich sah und roch Blut.
Ruthie lag in der Küche in einer Lache aus Sonnenlicht und Blut. Die Sonne hat sie immer geliebt, Blut aber aus tiefstem Herzen verabscheut.
Ich ließ mich auf die Knie fallen, wollte ihren Puls fühlen, aber ihre Kehle… es war nicht mehr viel davon übrig.
„Lizbeth.“ Sie öffnete die Augen. „Ich wusste, dass du kommst.“
„Sprich jetzt nicht.“ Wie konnte sie überhaupt ein Wort herausbringen? „Ich ruf…“
„Nein.“ Sie schloss die Augen, und einen Moment lang glaubte ich, sie sei tot. Was sollte ich bloß ohne sie machen? Sie war der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich liebte.
„Ruthie!“
„Psst.“ Sie tätschelte mir das Knie und hinterließ dabei einen Blutfleck. Seltsam, ihre Hand sah aus, als sei sie von spitzen Zähnen zerfleischt worden. Und genauso wirkte ihre…
„Ich hatte immer gehofft, dass du mal vorbeischaust, aber du bist nie gekommen.“
Ich zuckte zusammen. Ich hatte viel gearbeitet. Sonst hatte ich keine Verpflichtungen. Außer der Frau einen Besuch abzustatten, die mich von der Straße aufgelesen hatte.
„Ich komme ab jetzt öfter vorbei, das verspreche ich dir.“
Sie sah mir fest in die Augen: „Wenn ich nicht mehr bin, hängt alles von dir ab.“
„Ruthie, bitte…“
„Jetzt beginnt die letzte Schlacht“, bekam sie gerade noch heraus, ehe ihre Stimme versagte.
Sie nahm meine Hand – für eine alte Dame, die im Sterben lag, hatte sie einen ziemlich festen Griff –, dann explodierte mein Schädel, und ich verlor das Bewusstsein.
2
A ls ich wieder aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte, hatte sich nicht nur das Wetter geändert. Ich erinnerte mich ganz genau, dass ich an einem schönen Frühlingstag bei Ruthie gewesen war.
Jetzt gaben die Fenster im Krankenhaus den Blick
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