Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
auf wirbelnde Schneeflocken frei. Bei dem Gedanken, ein ganzes Jahr verloren zu haben, überfiel mich einen Moment lang Panik, bis mir einfiel, dass ich doch im Süden von Wisconsin lebte. Dort folgte auf einen sonnigen April oft ein stürmischer Mai.
Irgendetwas bewegte sich in meinem Zimmer, und ich wandte den Kopf danach um. Ich fühlte einen stechenden Schmerz und schloss die Augen, doch nur, um sie sogleich wieder zu öffnen.
„Hoppla“, entfuhr es mir. „Das ist ja mal was ganz Neues.“
Sicher besaß ich übersinnliche Fähigkeiten, aber eine Vision hatte ich bislang noch nie gehabt. Wenn dieses Horrorszenario, das mir eben vor den Augen geflimmert hatte, überhaupt eine Vision gewesen war.
Nein. Unmöglich. Ich hatte Monster mit Zähnen und Klauen gesehen. Überall Blut und Tod – und das war bei Ruthie gewesen.
Das konnte nicht die Wirklichkeit sein, so etwas passierte doch nur in einem „Albtraum“, murmelte ich mit schwerer Zunge.
Wer weiß, was die mir hier im Krankenhaus eingeflößt hatten. Monster gab es nicht, es sei denn, man zählt wie ich die Schweine dazu, die sich an Schwachen und Unschuldigen vergreifen.
Was war geschehen, nachdem ich im Haus das Blut gesehen und nach Ruthie gerufen hatte? Ich versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern. Aber schon der Versuch erschöpfte mich, und ich sank zurück in die sanfte Dunkelheit, die Geborgenheit und Sicherheit zu versprechen schien.
Seltsam, bis zu jenem Tag bei Ruthie hatte ich mich nie nach einem sicheren Ort gesehnt.
Als ich das nächste Mal aufwachte, waren Dick und Doof mit zwei Stühlen an mein Bett gerückt.
Eigentlich hießen sie Hammond und Landsdown, aber der eine war groß, dünn und sah dämlich aus, und der andere war kleiner, dicker und sah noch dämlicher aus. Sie arbeiteten beide bei der Mordkommission und waren ungefähr tausendmal klüger, als man ihnen ihrem Aussehen nach zutraute. „Was wollt ihr von mir?“ Ich streckte meine Hand nach dem Schalter für das Bett aus, um das Rückenteil hochzustellen. Wenn es ganz übel um mich bestellt gewesen wäre, hätten die Ärzte diese beiden Vögel bestimmt nicht hereingelassen.
Sobald ich aufrecht saß, schossen mir die vergangenen Ereignisse durch den Kopf. Auf einmal erinnerte ich mich wieder an alles, oder fast alles.
„Wer zum Teufel hat mir eins übergezogen?“, wollte ich wissen.
Hammond riss die Augen auf. „Dir eins übergezogen? Wann?“
„Ich bin zu Ruthie. Die Tür stand offen…“ Sah ihr gar nicht ähnlich, und auch die Wände voller Blut.
Endlich ging mir auch die tiefere Bedeutung dieser beiden Typen von der Mordkommission auf. So ganz hatte ich meine fünf Sinne noch nicht beisammen. Musste wohl an meiner Bewusstlosigkeit liegen.
„Ist sie tot?“
„Ja“, sagte Landsdown trocken.
Ich wollte heulen, aber irgendwie wusste ich nicht so recht, wie. Leuten wie mir treibt man die Heulerei schon frühzeitig aus.
Die beiden Bullen warteten eine Weile, um mir Zeit für eine Träne zu geben. Aber als nichts kam, machten sie mit ihren Fragen weiter.
„Wie hast du sie denn gefunden?“, wollte Hammond wissen.
Ich holte tief Luft, schloss die Augen, und wieder stiegen Bilder von Zähnen und Klauen in mir auf, von albtraumartigen Geschöpfen, die es unmöglich geben konnte. Was hatten die mir bloß in den Tropf gemischt?
Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. Hammond sah mir ruhig ins Gesicht. „Ruthie lag in der Küche auf dem Boden. Ich bin zu ihr hin.“
„War sie noch am Leben?“, fiel Landsdown ein.
Die gaben sich hier beim Verhör die Klinke in die Hand, erst der eine, dann der andere. Die Masche guter Bulle, mieser Bulle lief hier nicht, die waren beinahe austauschbar.
„Ja“, sagte ich.
„Und, hat sie was gesagt?“ Das war jetzt wieder Hammond.
„Sie hat gesagt: Ich wusste, dass du kommst.“
„Woher soll sie das gewusst haben?“
Ich zögerte. Woher eigentlich? Ich war einem Impuls gefolgt, dem dringenden Bedürfnis, Ruthie zu sehen.
„Keine Ahnung“, sagte ich und runzelte die Stirn. „Was ist mit den Kindern?“
Bei Ruthie waren immer alle Plätze belegt, es lebten also bis zu acht Kinder bei ihr. Ich hoffte inständig, dass keines von ihnen uns gefunden hatte.
„Denen geht es gut“, versicherte mich Landsdown. „Alle in der Schule. Haben nichts mitgekriegt.“
„Ein Glück.“ Ich hatte den Atem angehalten und stieß jetzt erleichtert die Luft aus. „Und wo sind sie jetzt?“
„Wieder im
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