Die Pilgergraefin
sollte sie ihre Gedanken besser nicht schweifen lassen, denn unweigerlich kam ihr dabei Konradin in den Sinn, den kein Bußgang der Welt wieder lebendig machen konnte.
Helene, eine kuriose Frau mittleren Alters mit so schriller Stimme, dass sie damit wohl Glas zerbersten lassen konnte, würde eine solche Erinnerung dagegen ganz sicher nicht bei ihr aufkommen lassen. Sie behauptete, der Erzengel Gabriel habe ihr befohlen, nach Rom zu pilgern. Besonders fromm schien sie allerdings nicht zu sein, denn während die anderen sangen und beteten, war sie damit beschäftigt gewesen, am Wegesrand nach Kräutern zu suchen, was ihr einen Tadel Pater Anselms eingetragen hatte. Doch Helene hatte sich keineswegs einschüchtern lassen, sondern dreist behauptet, es könnte durchaus sein, dass der ehrwürdige Pater noch einmal froh sein würde, wenn sie ihn mit ihren getrockneten Kräutern behandelte, denn es gebe weit und breit niemanden, der sich auf die Heilkunde so gut verstünde wie sie.
Leonor fand die Frau aufgeblasen und nicht besonders liebenswert. Ganz im Gegensatz zu Ludwig, einem Schreiner und Zimmermann, der sich als ruhiger und bescheidener Weggefährte zeigte. Es schien ihn wirklich zutiefst zu belasten, dass sein Lehrling beim Errichten eines Dachstuhls von einem schweren herabstürzenden Balken erschlagen worden war. Ludwig gab sich, da er als Meister für den Bau verantwortlich war, die Schuld am Tode des Jungen, und Leonor, die wie er davon überzeugt war, durch ihr Handeln Mann und Kind auf dem Gewissen zu haben, konnte seinen Kummer sehr gut nachempfinden – und noch einmal besser, als sie erfuhr, dass Ludwig jüngst seine mit dem ersten Kind schwangere Frau verloren hatte, die ein ungebärdiger Reiter auf der Landstraße einfach niedergeritten hatte, weil sie ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg gegangen war. Rücksichtslos hatte dieser sie liegen gelassen, sodass sie an ihren Verletzungen gestorben war. Schweren Herzens hatte Ludwig darauf die Werkstatt unter die Aufsicht seines Schwagers gegeben und war zu der Wallfahrt aufgebrochen.
Und dann war da noch die junge Ottilie, kaum älter als sie selbst, doch bereits seit fünf Jahren mit einem wohlhabenden Sattelmacher vermählt – und zutiefst niedergeschlagen, weil sie ihm keine Kinder schenken konnte. Ihr Beichtvater hatte ihr angeraten, die Wallfahrt nach Rom zu unternehmen, und ihr Ehemann hatte sie nur widerwillig ziehen lassen.
Was Jakob, einen Bierbrauer, wiederum dazu veranlasst hatte, sich auf Pilgerfahrt zu begeben, war Leonor entfallen. Der dickliche Mann schien bereits jetzt überfordert von den Anstrengungen und Entbehrungen zu sein, und besonders fromm kam er ihr auch nicht vor. Wenn sie an einem Wegkreuz innehielten, so fehlte es ihm an der nötigen Andacht – allerdings musste sie zugeben, dass sie selbst auch nicht besonders auf Gebet und Fürbitten konzentriert gewesen war, denn sonst wäre ihr gewiss entgangen, dass Jakob ständig seine Blicke wandern und sie letztendlich stets auf Elspeth ruhen ließ, die zwar meist sittsam die Augen niedergeschlagen hatte, indes auch gelegentlich mit den Wimpern klimperte.
Elspeth hatte herumgedruckst, als es darum ging, ihren Grund für die Pilgerreise anzugeben. Schließlich hatte Pater Anselm sie unterbrochen und ihr gesagt, so man denn Stillschweigen über seinen Beweggrund bewahren wolle, sei niemand verpflichtet, diesen den anderen preiszugeben. Erleichtert hatte Elspeth darauf nach einem Stück Brot gegriffen und dieses verdrückt.
Leonor glaubte – aber das war natürlich nur eine Vermutung –, dass die dralle junge Witwe hoffte, einen neuen Ehemann auf der Pilgerreise zu finden. Gewiss eine recht ungewöhnliche Art der Gattensuche, doch die Blicke, die Jakob ihr zuwarf, sprachen dafür, dass sie Erfolg haben könnte.
Blieb nur noch Peter von Troisdorf, jüngerer Sohn eines Ritters, der in einer Pilgerfahrt anscheinend den Ersatz für einen Kreuzzug sah. Den Jüngling, dem noch kaum der erste Bart gesprossen war, dürstete es offensichtlich nach Abenteuern, auch wenn er das Schwert mit dem Pilgerstab hatte tauschen müssen. Doch die Zeit der Kreuzzüge war vorbei und Jerusalem für immer für die Christenheit verloren.
Schließlich waren sie und Anna an die Reihe gekommen, sich vorzustellen und ihre Gründe für die Reise zu nennen. Dass sie eine Gräfin war, hatte Leonor nicht erwähnt, allerdings schien das den anderen Pilgern sowieso schon bekannt zu sein, wie sie aus allerlei
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