Die Pilgergraefin
Blasen an den Füßen, rief sie sich ihre Mitpilger ins Gedächtnis. Diese hatten sich auf Geheiß von Pater Anselm beim Nachtmahl im Speisesaal des Klosters den Neuankömmlingen vorgestellt, während sie mit Kohlsuppe und Brot ihren Hunger stillten.
Was für eine bunte Truppe wir doch sind, dachte Leonor.
Da war zunächst natürlich Pater Anselm, der Pilgerführer. Sie schätzte, dass er bereits fünfzig Winter erlebt hatte, auch wenn sein schlohweißes Haar, das er wohl seit einigen Jahren nicht mehr geschnitten hatte, und der ebenso weiße Bart ihn älter aussehen ließen. Seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt, in den dunklen Augen stand stets ein Ausdruck von Kummer, aber auch von Güte. Das schmale Antlitz wirkte edel, als entstamme er einer vornehmen Familie. Darauf ließ auch seine Ausdrucksweise schließen. Über seine Beweggründe, in den Orden der Franziskaner einzutreten und Pilger zu den bekanntesten Wallfahrtsstätten zu führen, hatte er jedoch nicht gesprochen, sondern auf Eschenbronn nur darauf verwiesen, dass er Schuld auf sich geladen habe, über die er aber keine Auskunft geben wollte.
Leonor war sich bewusst, dass er sie den ganzen Tag über beobachtet hatte, wahrscheinlich um zu prüfen, ob sie den Strapazen des Bußgangs gewachsen war. Dass sie ihre Kammerfrau mitgenommen hatte, schien ihm nicht zu gefallen, und auch die anderen waren darüber erstaunt oder gar empört.
Ich muss lernen, dass es auf dieser Reise keine Herrschaft und kein Gesinde gibt, nahm Leonor sich vor. Doch da sie von klein auf daran gewöhnt war, von Anna umsorgt zu werden, würde es gewiss eine Weile dauern, bis sie sich den neuen Verhältnissen angepasst hatte.
Der Auffälligste der Pilgerschar war ohne Zweifel der baumlange Richard, schon allein wegen seiner Körpergröße, denn er überragte alle anderen um mindestens eine Haupteslänge. Mit seiner kraftvollen Gestalt, dem hellbraunen Haar und den blauen Augen wirkte er, als könnte er so mancher Maid das Herz brechen. Und dass er gern lachte und mitunter sogar einen Scherz machte, gefiel Leonor – ganz im Gegensatz zu Pater Anselm. Der vormalige Geselle des Dombaumeisters zu Köln hatte, wenn auch unabsichtlich, einen Gehilfen vom Baugerüst gestürzt, der dabei zu Tode gekommen war. Das hatte der junge Mann sich so zu Herzen genommen, dass er glaubte, Buße tun zu müssen, und sich Pater Anselm angeschlossen hatte. Dass er ihr indes des Öfteren zugeblinzelt und sie wohlwollend gemustert hatte, gefiel ihr weniger.
Leonor seufzte, als einer der Pilger begann, pfeifende Geräusche von sich zu geben. Wie sollte sie inmitten so vieler Menschen jemals ein Auge zutun? Schnell lenkte sie ihre Gedanken auf Gotthilf, einen Studenten der Theologie. Er hatte angegeben, nach Rom zu pilgern, um sich darüber klar zu werden, ob er tatsächlich zum Priester berufen sei. Insgeheim fand Leonor es bedauerlich, sollte er sich für den geistlichen Beruf und damit für den Zölibat entscheiden, denn Gotthilf war ein durchaus ansehnlicher junger Mann mit wachen blauen Augen und lockigem blonden Haar. Andererseits nahmen es etliche Priester mit der Enthaltsamkeit sowieso nicht so genau, wie man wusste … Allerdings hatte sie den Eindruck, dass sich der Studiosus nicht so ohne Weiteres in die Gruppe einfügen und den Anordnungen Pater Anselms Folge leisten würde. Allein am heutigen Tage hatte er ihm bereits zweimal widersprochen, was den Pilgerführer zu einer strengen Ermahnung veranlasst hatte, verbunden mit der Androhung, Gotthilf würde die Gruppe verlassen müssen, so er sich denn nicht fügte. Als Strafe für seine Subordination hatte Gotthilf das Kreuz Christi, das jeder Pilger über eine gewisse Strecke tragen musste, fast den ganzen Tag lang schleppen müssen, bis er von Richard abgelöst worden war, für den die Last weit weniger beschwerlich war.
Bang fragte Leonor sich, ob wohl auch die Frauen das schwere Holzkreuz tragen mussten und ob sie – und auch ihre Anna – diese Aufgabe meistern könnten. Bei dieser Vorstellung merkte sie, wie ihr die Augen vor schierer Müdigkeit zufielen, doch ein lautes Rülpsen ließ sie sofort wieder hochschrecken. Erneut ging sie die Pilgertruppe der Reihe nach durch. Da war neben Anna und ihr noch Marga, eine junge Frau, deren Schicksal ihr zu Herzen ging, hatte diese doch ein schwerkrankes Kind daheim in einem Dorf bei Köln zurückgelassen, um in Rom am Grab des Apostels seine Genesung zu erflehen. Oh nein, in diese Richtung
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