Die Pilgergraefin
Beichtvater hätte gestehen müssen, die ihr aber nie über die Lippen gekommen war. Nie mehr hätte sie Pater Thomas, der in ihrem Alter war und zudem auch noch Elmar im Aussehen ähnelte, in die Augen blicken können …
Heftig schlug Hildegardis das schwere Rechnungsbuch zu und stellte es in das neben dem Schreibpult stehende Regal, in dem sich bereits eine stattliche Anzahl von Kontobüchern befand. Ihr Blick fiel auf einige Rollen unbeschriebenen Pergaments, die auf dem Brett unterhalb der Folianten lagen. Schon seit Längerem hegte sie den Gedanken niederzuschreiben, was ihr widerfahren war und wie es dazu gekommen war, dass sie Nonne hatte werden müssen. Ja, diese Aufzeichnungen würden sie möglicherweise ablenken vom Klosterdasein und sie zurückbringen in eine Zeit, in der sie ein unbeschwertes junges Mädchen gewesen war, bevor …
Kurz entschlossen nahm Hildegardis eines der wertvollen Pergamente, verdrängte den Gedanken, dass es sich dabei nicht um ihr Eigentum, sondern um das von St. Odilia handelte, und breitete es auf ihrem Pult aus. Um es zu glätten, strich sie mehrmals darüber, bevor sie zum Federkiel griff.
Womit sollte sie anfangen? Mit dem Tag, an dem sie Elmar, den Sohn des neuen Truchsess’, zum ersten Mal erblickt hatte? Damals hatte sie gerade einmal vierzehn Lenze gezählt und zum ersten Mal weibliches Sehnen verspürt. Er hingegen mochte siebzehn Sommer erlebt haben. Ach, wie schön war er gewesen mit seinen blauen Augen, dem weizengelben Haar und der bereits männliche Kraft andeutenden Gestalt. Nur von Weitem hatte sie ihn zu Gesicht bekommen an der abendlichen Tafel, denn als tief unter ihr Stehender hatte er sein Mahl an einem entfernt vom gräflichen Podest ihrer Familie stehenden Tisch eingenommen. Sie hatte die Augen nicht von ihm lassen können. Offensichtlich hatte sie ihn so auffällig angestarrt, dass ihre jüngere Schwester sie in die Seite geknufft und ihr zugezischt hatte, sie solle sich zusammenreißen.
Eines Tages war ihr Elmar jedoch auf einer Jagd als Begleiter zugeteilt worden, und sie hatten einige Worte miteinander wechseln können. In seinen Augen hatte sie die gleichen Gefühle gelesen, die auch sie ihm entgegenbrachte. Natürlich hatte sie gewusst, dass Elmar kein passender Umgang für sie, eine Grafentochter, war. Dennoch hatte sie fortan seine Nähe gesucht und davon geträumt, wie es wohl sein mochte, wenn er seine vollen Lippen auf die ihren presste.
So war sie ihm, als sich die Gelegenheit ergab, nur allzu willig auf eine Lichtung gefolgt …
Und dort hatte man sie erwischt. Hingerissen von seinen Küssen, hatte sie kaum gemerkt, dass er ihr die Röcke hochgeschoben und sich selbst seiner Bruche entledigt hatte. Nur noch wenige Augenblicke, und er hätte sie besessen …
Da waren ihr Vater und seine Männer aufgetaucht. Hatten sie und Elmar halb nackt gesehen, kurz vor dem Liebesakt …
Was mochte aus Elmar geworden sein? Lebte er noch? Wie oft hatte sie sich diese Frage gestellt, seitdem man ihn gnadenlos ausgepeitscht und sie gezwungen hatte, dabei zuzusehen. Danach hatte man sie ins Kloster gesteckt. Hildegardis umfasste den Federkiel so fest, dass er zerbrach. Oh, Hölle – oh, Himmel, nun musste sie auch noch einen neuen, teuren Federkiel anschaffen. Wütend riss sie an ihrem Schleier – so heftig, dass der feine Stoff, den ihre Nonnen gewebt hatten, entzweiriss. Sie unterdrückte einen sehr unfrommen Fluch.
Das war der denkbar ungünstigste Moment für Gerlinde, die Schwester Pförtnerin, an die Tür zu klopfen und auf das „Herein“ der Äbtissin deren Arbeitszimmer zu betreten. Unverzüglich spürte sie die schlechte Laune der Oberin. Und so verneigte sie sich tiefer als üblich und vorgeschrieben und flüsterte ängstlich: „An der Pforte wartet eine junge Frau, Ehrwürdige Mutter.“
„Was murmelst du da, Gerlinde? Sprich gefälligst laut und verständlich“, fuhr Hildegardis sie an. „So oft habe ich dich bereits dazu angehalten.“
„Verzeiht mir, Hochwürdige Äbtissin.“ Die Nonne hob die Stimme. „An der Pforte wartet eine junge Frau.“
Hildegardis maß ihre Mitschwester mit einem ungeduldigen Blick. „Und? Was will sie? Weshalb kommst du zu mir? Konntest du ihr nicht einen Kanten Brot geben und sie weiterschicken?“
Gerlinde ließ die Schultern hängen. „Ich dachte … ich glaubte …“
„Je nun, was glaubtest du denn?“
„Ich dachte, da sie wie eine Edelfrau gekleidet ist, würdet Ihr vielleicht selbst
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