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Die Pilgergraefin

Die Pilgergraefin

Titel: Die Pilgergraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Mittler
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keine Vogelscheuche zu sein. Seid Ihr gerüstet für einen Kampf?“
    Als die Wallfahrer die Stadttore passierten, stieg ihnen ein seltsamer Gestank in die Nase, der immer stärker wurde, je mehr sie sich dem Marktplatz näherten.
    Pater Anselm, der auf seinen weiten Reisen schon so manch grausige Erfahrung gemacht hatte, schlug das Kreuzzeichen. Herr Jesus, wie oft hatte er diesen Geruch bereits wahrgenommen. Wie oft hatte er für die armen Seelen gebetet – sowohl für die Opfer als auch für die Peiniger. Wie oft hatte er gehofft, nie wieder diesen Gestank wahrnehmen und diese Schreie hören zu müssen. Schreie von Menschen, an deren Füßen Flammen leckten und die an einen Pfahl gebunden waren, damit sie den schrecklichen Qualen nicht entkommen konnten.
    Als Franziskanermönch kannte er Mitleid mit jeder Kreatur – ob Mensch oder Tier –, und die oft unter schlimmster Folter erpressten Geständnisse von sogenannten Ketzern weckten in ihm, auch wenn er als gläubiger Christ nicht an den Beschlüssen der Mutter Kirche zweifeln durfte, schwere Bedenken. Zwar wurden die Angeklagten nicht von der Geistlichkeit, sondern von der weltlichen Obrigkeit für schuldig befunden und gerichtet. Doch letzten Endes lief es auf das Gleiche hinaus: einen grausamen Tod, dem so mancher Unschuldige zum Opfer fiel.
    Er überlegte, ob und wie er den ihm anvertrauten Schäflein den schrecklichen Anblick, der sie alsbald erwarten dürfte, ersparen konnte.
    Doch schon bog die Pilgerschar in die enge Gasse mit den schmalen Fachwerkhäusern ein, deren obere Stockwerke fast aneinanderstießen, und näherte sich dem Marktplatz. Der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde stärker, und die Schmerzensrufe der zum Feuertode Verurteilten schwollen an.
    Bereits war das Prasseln des Feuers zu hören, übertönt von Schreien, die nicht mehr menschlich klangen, und einem vereinzelten Ruf: „Habt Erbarmen, wir verbrennen zu langsam!“
    Zusammengekauert wie ein Kind im Leib der Mutter, die Hand fest mit der von Anna verschlungen, lag Leonor zitternd und bebend auf der Pritsche im Gästeschlafsaal des Klosters. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie einen so schrecklichen Anblick ertragen müssen! Gewiss, sie hatte davon gehört, dass man vor Jahren im Südwesten Frankreichs die ketzerischen Katharer mit Feuer und Schwert ausgelöscht hatte. Ebenso war von weither die Kunde an ihr Ohr gedrungen, wie der damalige König von Frankreich die Tempelritter auf grausame Weise hatte ausrotten lassen …
    Und auch hatte Anna ihr einmal berichtet, wie eine Frau, die man der Hexerei bezichtigt hatte, im Dorfweiher ertrunken war. Damals war sie noch recht jung gewesen – zehn oder elf Sommer alt –, und dennoch hatte Leonor sich über den Sinn des ihr berichteten Vorgehens Gedanken gemacht: Mit Steinen beschwert, war die Verdächtige in den Teich geworfen worden. Dass sie darin ertrunken war, hatte man als Beweis ihrer Schuld angesehen und sie, nachdem man sie ans Ufer gezogen hatte, nachträglich sogar noch verbrannt. Anna hatte ihr den Sinn dieser Prozedur nicht erklären können, und auch die Mutter hatte keine Antwort gewusst.
    Doch nie zuvor hatte Leonor ein dermaßen entsetzliches Schauspiel wie das auf dem Marktplatz der kleinen Stadt mit eigenen Augen mit ansehen müssen, unfähig, den Leidenden zu helfen.
    Auch jetzt noch gellten ihr die Todesschreie der auf dem Scheiterhaufen Gefesselten in den Ohren wider. Sie wusste nicht, ob sie schuldig waren oder nicht. Doch eines wusste sie ganz sicher: dass kein Mensch eines solch schrecklichen Todes sterben sollte!
    Als sie endlich einschlief, wurde sie von Albträumen heimgesucht. Aber zwischen grausigen Szenen erschien immer wieder ein Engel. Ein Engel, der im Laufe des Traumes die Gestalt eines Ritters annahm …
    Noch immer zutiefst erschüttert von den schrecklichen Eindrücken des Vortages, setzte Leonor nach einer fast schlaflosen Nacht die Wallfahrt fort, indem sie einen Fuß vor den anderen setzte und versuchte, nicht an all das zu denken, was ihr einst so behütetes und glückliches Leben ausgemacht hatte. Von Zeit zu Zeit kam ihr der Traum in den Sinn, den sie jedoch nicht zu deuten vermochte. Flammen – wie die des Scheiterhaufens – umzüngelten das mächtige Schwert des Cherubim. Und dann verwandelte sich die Gestalt des Engels in die eines Ritters – eines Ritters ohne Gesicht. Er schien zu ihr zu sprechen, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Sollte dieser Traum ihr etwas sagen?

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