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Die Pilgergraefin

Die Pilgergraefin

Titel: Die Pilgergraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Mittler
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Wachte etwa ein Engel über sie? Oder wartete gar ein Ritter auf sie am Ende ihrer Wallfahrt? Oder war der Traum nur ein sinnloses Hirngespinst?

8. KAPITEL
    I nzwischen waren sie so weit gekommen, dass die schier unüberwindlichen Gipfel der Alpen vor ihnen aufragten. Leonor konnte sich nicht vorstellen, wie sie diese steinernen Wälle, die den Himmel zu berühren schienen, überwinden sollten. Doch Pater Anselm hatte ihnen versichert, dass es Saumpfade und Pässe gebe, die es seit Jahrhunderten den Menschen hüben und drüben ermöglichten, dieses steinerne Meer zu überwinden und wieder hinabzusteigen in liebliche Täler und Landstriche wie die weite, fruchtbare Ebene des Po. Die schwerste Passage ihrer Wallfahrt würden sie damit hinter sich gebracht haben, selbst wenn sie nach Erreichen des Welschlandes noch immer sehr viele Meilen von ihrem Ziel trennten.
    Obwohl Maria Einsiedeln nicht direkt an der Pilgerroute nach Rom lag, hatte Pater Anselm einen Umweg dorthin gemacht. An dieser Wallfahrtsstätte, wo der heilige Meinard im 9. Jahrhundert als Einsiedler gelebt hatte, wollte er für die Beendigung des päpstlichen Exils beten. Dort hatte er der Pilgerschar auch dargelegt, wie es dazu gekommen war, dass die Päpste Rom hatten verlassen müssen. Doch Leonor hatte ihm, abgelenkt durch das bunte und keineswegs besonders fromme Treiben in dem bekannten Wallfahrtsort, nicht so recht zugehört und die komplizierten Ränke- und Machtspiele zwischen dem Heiligen Stuhl und den weltlichen Herren, darunter vor allem der französische König und Kaiser Karl IV., nicht wirklich verstanden, wenngleich sie in den Unterrichtsstunden ihres Bruders davon gehört hatte und die Fakten kannte.
    In ihr brannte nur der eine Wunsch: Rom zu erreichen, am Grab des Apostels Paulus Vergebung für ihre Schuld zu finden und wieder heimzukehren.
    Heimzukehren? Aber wohin? Schmerzvoll wurde es ihr erneut gewahr, dass sie kein Heim, kein Zuhause, mehr hatte. Was sollte aus ihr werden, wenn die Wallfahrt beendet war? Der Gatte tot, der Vater tot – wer würde sie aufnehmen? Bliebe ihr trotz der Pilgerfahrt zuletzt dennoch nur die Wahl zwischen einem Gemahl wie Baron Attenfels oder dem lebenslangen Aufenthalt in einem Konvent?
    Gewiss, so tröstete Leonor sich, gab es weniger gestrenge Äbtissinnen als Hildegardis von Fronholtz und Stifte, in denen es angenehmer zugehen mochte. Und doch rebellierte nach wie vor irgendetwas in ihr gegen ein Leben hinter Klostermauern.
    Ohne weitere Zwischenfälle hatten die Rom-Pilger nach dem kurzen Aufenthalt in Maria Einsiedeln ihre Reise fortgesetzt.
    Allerdings waren sie nunmehr nur noch zu zehnt, denn Jakob und Elspeth hatten die Gruppe heimlich verlassen. Man mutmaßte, dass dem dicklichen Jakob die Anstrengungen der Wallfahrt zu groß gewesen waren, denn er hatte unterwegs oft gestöhnt und geächzt und sich schwer auf seinen Pilgerstab gestützt. Häufig war er auch ein Stück hinter den anderen zurückgeblieben. Dann war Elspeth jedes Mal zu ihm geeilt und hatte ihm gut zugeredet. Infolgedessen ging man nach ihrem Verschwinden davon aus, dass die junge Witwe ein Auge auf den wohlhabenden Bierbrauer geworfen hatte und sich nun eine zweite Ehe mit ihm erhoffte. Pater Anselm hatte ein Gebet für die beiden Abtrünnigen gesprochen und seine restlichen Schäfchen zum Durchhalten ermahnt.
    Nun galt es, die erste Passhöhe zu erreichen und zu überqueren, und Anselm wusste aus Erfahrung, dass selbst im Sommer und bei gutem Wetter die Bewältigung eines mächtigen Gebirgszuges nicht ungefährlich war. Gänzlich unerwartet konnten Nebelbänke aufziehen, und schon mehr als einmal hatten Steinschläge und Schlammlawinen Pilger in den Tod gerissen. Und so ließ er seine Schutzbefohlenen niederknien und dafür beten, dass sie das steinerne Meer mit Gottes Hilfe unbeschadet überquerten.
    Leonor war nicht ganz bei der Sache. Zum einen beeindruckten sie die majestätischen Bergriesen zu sehr, die vor ihr emporragten. Zum anderen fragte sie sich, wie sie diese nur überwinden und danach, ohne Schaden zu nehmen, wieder den Abstieg schaffen könnte. Bang nahm sie Anna bei der Hand.
    „Glaubst du, es wird uns gelingen?“, flüsterte sie, während die anderen inbrünstig beteten. Dabei nahm sie aus dem Augenwinkel den Blick wahr, den Richard ihr zuwarf. Hatte der junge Mann etwa ein Auge auf sie geworfen? Seit er ihr dabei geholfen hatte, Anna aus der brennenden Scheune zu retten, war ihr schon des Öfteren

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