Die Pilgergraefin
aufgefallen, dass er sie sehnsüchtig betrachtete. Wie konnte er es wagen? Immerhin war er nur ein Geselle des Dombaumeisters von Köln. Und sie eine Gräfin!
Nein, rief Leonor sich zur Ordnung: Du bist jetzt und hier keine Gräfin, sondern eine Pilgerin, die Buße tut und um Vergebung ihrer Sünden bittet.
„Gewiss, liebe Herrin“, versicherte ihr in diesem Moment Anna, von deren einst molligen Formen nicht mehr allzu viel übrig geblieben war. Fast hager wirkt sie, stellte Leonor fest. Ob es nicht doch zu viel für sie war? Jetzt fielen ihr auch die ungewohnten harten Linien um den Mund der Kammerfrau auf, die auf Schmerzen hindeuteten. Sie nahm sich vor, Anna bei der abendlichen Rast darauf anzusprechen.
„Wohlan denn“, unterbrach Pater Anselm, der das Gebet beendet hatte, ihre Gedanken. „Mit Gottes Hilfe werden wir diesem Gebirge trotzen und uns der Stadt nähern, in der der heilige Petrus als erster Nachfolger unseres Herrn Jesus gewirkt und ebenso wie St. Paul den Märtyrertod gefunden hat. Seid frohen Mutes, liebe Brüder und Schwestern im Herrn.“
Natürlich waren auch Robyn die sich nähernden Reiter nicht entgangen. Drei oder vier schienen es zu sein – so genau vermochte er es auf die Entfernung hin nicht zu sagen. Und ob Freund oder Feind, war noch völlig unklar. Auf alles gewappnet, blickte er sich nach einem natürlichen Schutz wie etwa einem Felsblock um, denn die sich Nähernden waren in der Überzahl, und er wollte sie keinesfalls in seinem Rücken haben. Doch weit und breit entdeckte er nichts, was ihm Deckung bieten konnte.
„Denke daran, was ich dir gesagt habe“, mahnte er Jérôme.
„Anna, Anna, wo bist du?“
So etwas hatte Leonor noch nie zuvor erlebt. Wie durch Zauberhand hatte sich eine dicke Nebelwand gebildet, die einen die Hand nicht mehr vor Augen erkennen ließ.
„Ich bin hier, Herrin.“
Leonor spürte die Finger ihrer Kammermagd auf dem Ärmel ihres Pilgergewands. „Oh, gut. Aber wo sind die anderen? Ich kann sie nicht mehr sehen.“
„Sorgt Euch nicht, liebe Herrin. Sie können nicht weit sein.“
„Gib mir deine Hand, Anna, damit wir einander nicht auch noch verlieren.“ Erleichtert spürte Leonor die Finger ihrer Kammerfrau. Wie konnte ein Nebel nur so schnell heraufziehen und alle Dinge um einen herum so sehr verwischen, dass man von ihm bedeckt war wie von einem Leichentuch?
„Pater Anselm, Pater Anselm!“, rief sie, zu Tode erschrocken. „Pater Anselm, wo seid Ihr?“
Doch sie erhielt keine Antwort.
Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie den Pilgerführer und die Schar der Wallfahrer gesehen, und nun schienen sie wie vom Erdboden verschluckt. „Pater Anselm …“, schrie sie erneut, aber ihr Ruf wurde von der weißen Nebelwand verschluckt.
Anna drückte die Hand ihrer jungen Herrin. „Lasst uns einen Augenblick verweilen. Gewiss wird der Dunst sich alsbald lichten, und dann sehen wir, wo die anderen sind.“
Leonor erwiderte den Druck, doch ihr war bang ums Herz. Was, wenn sie Pater Anselm und die Pilgergefährten hier in den unbekannten, menschenverlassenen Höhen des Gebirges verloren? Nie wieder würden sie den Weg ins rettende Tal finden. Zudem gab es sicher Wölfe hier – und Bären! Leonor empfand zum ersten Mal in ihrem Leben entsetzliche Angst. Angst, zu sterben und in das knöcherne Gesicht von Gevatter Tod zu blicken sowie ihrem Schöpfer gegenübertreten zu müssen, bevor sie ihre Schuld gesühnt hatte.
„Attacke!“, schrie Jérôme, als die vier Reiter sich ihnen bis auf wenige Meter genähert hatten.
„Halte ein, du Einfaltspinsel!“, befahl ihm Robyn. „Wir wissen doch gar nicht, ob sie uns feindlich gesinnt sind.“
Enttäuscht darüber, dass er sein Können als mutiger Kämpfer nicht sogleich unter Beweis stellen konnte – und gänzlich die Schmerzen vergessend, die seine gebrochene Rippe ihm noch immer bereitete –, ließ Jérôme das Schwert in der Scheide stecken und fügte sich dem Befehl seines Ritters.
Robyn schmunzelte nur und betrachtete dann die vier Jammergestalten auf ihren Kleppern etwas genauer. Sollten sie feindliche Absichten hegen, würden sie für ihn und selbst seinen verletzten Knappen ein leichtes Spiel sein. Ja, sogar ohne Jérômes Unterstützung stellten sie keine Gefahr für ihn dar. Da hatte er es schon mit ganz anderen Gegnern aufgenommen.
Indes schien der Anführer der Strauchritter die Situation völlig anders einzuschätzen. Er plusterte sich auf wie ein Pfau und verlangte:
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