Die Pilgergraefin
Jérôme?“
Scharfsinnig konstatierte der: „Dass Ihr nicht mehr Pfaffe werden müsst.“
„Ganz recht, mein Lieber.“
Jérôme sackte auf seinem Pferd zusammen. Anscheinend hatte er nun genug erfahren, denn wohl zum hundertsten Male, seitdem sie Paris verlassen hatten, sagte er: „Ich habe Hunger. Wie weit ist es noch bis Avignon?“
Ebenso schnell wie die Nebelwand sich vor Leonor und Anna auf dem Weg zum Pass vor ihnen aufgetürmt und ihnen jegliche Sicht genommen hatte, verschwand sie auch wieder und gab den Blick auf die Umgebung frei. Eine Umgebung von majestätischer Schönheit tat sich vor ihren Augen auf, in der jedoch, so weit man schauen konnte, keine Pilgergruppe zu entdecken war. Gewiss konnten Pater Anselm und die anderen nicht weit sein. In der kurzen Zeit, die Anna benötigt hatte, um hinter einem Felsbrocken ihre Notdurft zu verrichten, bevor die Nebelwand sie von den Wallfahrern getrennt hatte, waren sie bestimmt nur eine kurze Strecke vorangekommen und würden bestimmt gleich hinter der nächsten Wegbiegung, die um eine Felsnase führte, auf sie warten.
Vorsichtshalber riefen sie und Anna, während sie weiter ausschritten, abwechselnd: „Pater Anselm. Pater Anselm, wartet auf uns!“
Doch als sie den Felsvorsprung umrundet hatten, blieben die Frauen verblüfft stehen. Keine Spur von den Wallfahrern. Und zu allem Übel gabelte sich der Weg hier auch noch. Welche Richtung mochten die anderen genommen haben?
„Ach, ich bin schuld“, jammerte Anna. „Hätte ich doch nur …“
„Sei still“, fiel Leonor ihr ins Wort. „Der Nebel ist schuld. Und Wehklagen helfen uns jetzt nicht weiter. Lass uns lieber überlegen, welchen Weg Pater Anselm gewählt haben mag.“
Anna nickte und deutete auf den etwas breiteren Pfad, der aussah, als würde er häufig genutzt. Nach einer Weile verlor er sich indes in einem Tannenwald. Und außerdem führte er talabwärts.
Leonor dachte nach. Der Forst mochte erklären, warum die Pilger nicht mehr zu sehen waren. Indes kam es ihr seltsam vor, warum man wieder ins Tal hinabsteigen sollte, da man sich doch noch beim Aufstieg auf die Passhöhe befunden hatte. Andererseits hatte Pater Anselm, der bereits mehrere Male Pilger gen Rom geführt hatte, ihnen zuvor erklärt, dass er eine Abkürzung kenne und sie abseits von der Straße, die sonst genutzt wurde, durchs Gebirge geleiten würde.
Leonor runzelte die Stirn. Der bergab führende Weg sah bequemer aus, und ein Abstieg ins Tal versprach zudem, dort vielleicht auf ein Dorf oder Gehöft zu stoßen, wo man Beistand und eine Unterkunft fand. Eine innere Stimme indes riet ihr, den bergauf führenden Pfad zu wählen, da dieser sie eher zur Passhöhe bringen würde.
„Lass und noch einmal rufen, Anna. So laut wie wir können. Inzwischen muss man uns doch vermissen.“
Beide Frauen legten die Hände trichterförmig an den Mund und riefen aus Leibeskräften: „Pater Anselm, Pater Anselm …!“ Aber niemand antwortete.
Die vernünftige Anna schlug vor: „Lasst uns hier an diesem Scheideweg ausharren, Herrin. Gewiss wird der Pater einen Suchtrupp nach uns ausschicken.“
Im Stillen musste Leonor ihrer Kammermagd recht geben, doch es war ihr, als lenke jemand ihre Schritte auf den Pfad, der bergauf führte. Und so ging sie über Annas Argument hinweg und sagte entschlossen: „Hier entlang! Dieser Weg führt zum Pass. Dort werden wir alsbald auf Pater Anselm und die anderen stoßen.“
Zu Treue und Gehorsam erzogen, schluckte Anna ihren Widerspruch hinunter und folgte ihrer Herrin – nicht ahnend, welches Verderben auf sie wartete.
Selbst Pater Anselm, der sich mit den Wetterbedingungen in den Alpen auskannte, wurde von der Plötzlichkeit, mit der die Nebelwand aufzog, überrascht. Plötzlich trat sein rechter Fuß ins Leere. Unwillkürlich riss er die Arme hoch und versuchte, das Gleichgewicht zu halten – vergebens. Mit einem Schrei auf den Lippen stürzte er ins Nichts und fiel, bis er schmerzhaft mit dem Kopf auf einem harten Gegenstand aufprallte. Ihm wurde schwarz vor den Augen. Hatte sein letztes Stündlein geschlagen? „Herr Jesus“, presste er noch hervor, dann verlor er das Bewusstsein.
Je höher sie stiegen, desto klarer wurde es Leonor, dass sie den falschen Weg gewählt hatte. Immer beschwerlicher wurde er, immer schmaler, bis bald kaum noch ein Pfad erkennbar war.
Die beiden Frauen keuchten vor Anstrengung. Ihre Pilgerbündel geschultert, kämpften sie sich unter der selbst im Gebirge
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