Die Pilgergraefin
Brüder, denen das schauerliche Schauspiel offensichtlich gefiel, zerrten mich feixend und johlend wieder hinter seinem Rücken hervor. Gewiss, der Mörder hatte seine Strafe verdient. Musste diese allerdings so entsetzlich ausfallen? Bevor er starb, haben sie ihm auch noch den Leib aufgeschnitten und seine Gedärme herausgezerrt. Diesen Anblick werde ich ebenfalls mein Lebtag nicht vergessen. Und seitdem sind mir Grausamkeiten ein Gräuel.“
Jérôme, der selbst einmal einer Hinrichtung beigewohnt hatte – allerdings war der Delinquent nur gehängt worden –, hatte damals nicht so empfunden. Schließlich war es an der Tagesordnung, dass Missetäter ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Das Rädern war jedoch eine besonders grausame Todesart und der Chevalier erst zehn Jahre alt gewesen. Ja, er konnte nachvollziehen, dass dieses Schauspiel unauslöschliche Eindrücke bei ihm hinterlassen hatte. Dennoch …
„Und dieses Erlebnis hat Euch dazu bewogen, lieber friedfertig als kämpferisch aufzutreten?“, fragte er skeptisch. „Immerhin seid Ihr ein Ritter und kein Pfaffe.“
„Nein, ein Pfaffe bin ich in der Tat nicht, obwohl mein Vater ursprünglich die kirchliche Laufbahn für mich bestimmt hat. Allerdings hätte er sich nicht damit zufriedengegeben, wäre ich ein einfacher Priester geworden. Er verfolgte große Ziele, als er mich in die Klosterschule gab, und erwartete von mir, dass ich zumindest Abt eines bedeutenden Konvents oder gar Erzbischof werden würde. Auch für meine Brüder wünschte er sich hohe, wenn auch weltliche Ämter, die sie jedoch bislang noch nicht erlangt haben.“
Robyn hielt kurz in seiner Rede inne und dachte an Charles und Jacques, die, wie er fand, nicht das Zeug dazu hatten, das ihnen gesetzte Ziel zu erreichen. Nachdem er sich geräuspert hatte, fuhr er fort: „Der Gedanke, Geistlicher zu werden, gefiel mir gar nicht. Dazu fühlte ich mich keineswegs berufen. Doch schon immer habe ich gern gelernt und den Unterricht in der Klosterschule deshalb genossen. Dort hatte ich einen weisen Lehrer, einen Mönch, der sich auch mit den Schriften der Philosophen und Dichter der Antike, insbesondere denen der alten Griechen auskannte. Anhand der Fabeln von Äsop erläuterte er, dass eine List einen mitunter weiterbringt als rohe Gewalt. Zudem war er ein Mann, der die Grundsätze des Christentums nicht nur verstanden hatte, sondern sie auch beherzigte. Und mit seiner Einstellung bin ich bis jetzt gut gefahren, auch wenn ich mich gelegentlich mit dem Schwert verteidigen musste.“ Robyn hielt inne und fragte sich, ob sein Knappe wohl reif genug war, um die soeben geschilderten Zusammenhänge und seine daraus resultierende Überzeugung zu begreifen.
„Und wieso seid Ihr dann letzten Endes doch kein Pfaffe geworden, Sieur?“, wollte Jérôme wissen.
Aha, an den wahren Werten des Christentums war sein Schildknecht nicht interessiert.
„Das verdanke ich der Tatsache, dass es mir gelang, meine Schwester Isabeau vor dem Ertrinken zu retten“, erwiderte Robyn. Jérôme riss die Augen auf. „Wie ist es denn dazu gekommen, Chevalier?“
„Es geschah an Weihnachten vor mehr denn zehn Wintern“, begann Robyn. „Von der Klosterschule war ich nach Hause zurückgekehrt. Es war recht kalt, aber nicht so kalt, dass die Teiche und Flüsse fest zugefroren waren. Mit Isabeau und meinen Brüdern hatte ich einen Spaziergang unternommen, und sie war dabei in einen mit einer dünnen Eisschicht bedeckten See eingebrochen. Während mein ältester Bruder Charles immerhin zur Burg rannte, um Hilfe zu holen, stand Jacques nur lamentierend am Ufer herum. Da bin ich vorsichtig bäuchlings auf dem Eis bis zu ihr hin gekrochen und habe sie gerade noch rechtzeitig aus dem eiskalten Wasser herausziehen können. Danach lag sie todkrank für mehrere Tage im Bett. Wie froh waren wir alle, als sie wieder gesundete“, schloss Robyn seinen Bericht.
„Oh, wie tapfer Ihr seid, Chevalier. Doch was hat es damit zu tun? Dass Ihr nicht Pfaffe werden musste?“
Sein Knappe hatte recht. Die Frage hatte er nicht zufriedenstellend beantwortet. Also ergänzte er: „Meine Eltern waren natürlich überglücklich, dass ich Isabeau das Leben gerettet hatte, und meine kluge Mutter, die mich nie als Priester gesehen hatte und sehr wohl wusste, was ich wollte, bat meinen Vater, er möge mir meinen innigsten Wunsch erfüllen.“
„Und was wünschtet Ihr Euch, Sieur?“
Robyn grinste. „Na was wohl,
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