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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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durch die vielen Kissen nach vorne gedrückt worden war. Da ihm davor graute, den Toten ein zweites Mal zurechtzurücken, wandte er sich ab und heftete seinen Blick auf andere Dinge. Dabei entdeckte er ein Blatt Papier, das während Willingers Todeskampf zu Boden gefallen war. Unwillkürlich hob er es auf und überflog es. Der Fund vertrieb den Schrecken, der ihn im Bann gehalten hatte, denn es war der Entwurf des neuen Testaments, welches Otfrieds Vater an diesem Tag noch hatte bestätigen lassen wollen. Mit einem zufriedenen Lächeln faltete er es zusammen und steckte es ein.
    Unterdessen hatte Otfried die Magd in die Küche zurückgescheucht und räusperte sich, als stecke ihm etwas im Hals. Gürtler verließ die Kammer und blickte vorsichtig über das Geländer. Als der junge Willinger ihm im Schein einer Öllampe winkte, stieg er auf Zehenspitzen die Treppe hinab.
    Otfried sah immer noch so aus, als habe ihn der Atem des Sensenmanns gestreift. Seine Hände zitterten, und als er sprechen wollte, brachte er kein verständliches Wort heraus. Gürtler packte ihn an der Schulter, schob ihn auf die Haustür zu, die von der Küche aus nicht eingesehen werden konnte, und presste ihm dort den Daumen so fest auf das Schlüsselbein, dass der junge Mann vor Schmerz aufstöhnte. »Du gehst jetzt ins Kontor und rührst dich nicht von der Stelle, bis der Tod deines Vaters bemerkt worden ist, verstanden? Morgen Vormittag kommst du dann zu mir, damit wir unseren Kontrakt schließen können.«
    »Welchen Kontrakt?«, fragte Otfried verwirrt.
    Gürtler sah ihn kopfschüttelnd an. »Eigentlich sind es zwei. Zum einen der Bund, der dich in den Kreis der Freunde aufnimmt, die gegen Bürgermeister Laux stehen, und dann natürlich der Ehevertrag. Ich will Tilla so rasch wie möglich heiraten.«
    »Aber das geht doch nicht! Sie muss die Trauerzeit einhalten.« Obwohl Otfried Gürtler dabei geholfen hatte, seinen Vater umzubringen, beschlich ihn Furcht vor der Skrupellosigkeit seines Freundes.
    Gürtler bemerkte die wachsenden Schuldgefühle des Jüngeren und bleckte die Zähne. »Versuche nicht, mich zu betrügen. Das würde dir nicht gut bekommen! Ach ja, dies hier nehme ich mit mir und bewahre es auf. Wenn man das Blatt hier im Haus findet, könnte es einige Leute veranlassen, Ansprüche zu erheben und zum Gericht zu laufen.« Er wedelte mit dem Testament vorOtfrieds Nase herum, drückte dessen Öllampe aus und wandte ihm mit einer brüsken Bewegung den Rücken zu. Ohne einen Gruß verließ er das Haus und machte dabei nicht mehr Lärm als eine Maus, die durch den Keller huscht. Nach zwei, drei Schritten hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
    Otfried schloss die Haustür so lautlos, wie es ihm möglich war, und kämpfte gegen das Gefühl, eine eisige Hand schnüre ihm den Atem ab. Der Mann, den er für seinen Freund hielt, hatte gerade so geklungen, als wäre er bereit, auch seinen Weg ins Paradies zu beschleunigen. Nicht ins Paradies, schoss es ihm durch den Kopf, sondern in die Hölle. Er würde einen Priester finden müssen, der ihn für einen Beutel voll goldener Zwölfguldenstücke von der Schuld des Vatermords freisprach. Das aber hatte noch Zeit. Zunächst galt es, die folgenden Tage gut zu überstehen. In einem hatte Gürtler Recht: jetzt war er der Herr im Hause Willinger und sein Wille hatte zu geschehen. Mit diesem Gedanken drängte Otfried die Schatten der Schuld beiseite, die ihn niederdrücken wollten, und begab sich in das Kontor seines Vaters. Es ist jetzt mein Kontor, sagte er sich, als er die Öllampe nahm und sie an dem fast niedergebrannten Kienspan anzündete, der in der Flurnische in einer Messinghalterung stand. In der nächsten Stunde vertiefte er sich in die Geschäftskorrespondenz und die Bücher und versuchte dabei, den Mord zu vergessen.

VI.
    Tilla blieb vor dem winzigen Fachwerkhäuschen ihrer Kinderfrau stehen und ließ ihren Blick darüberwandern. Es war so klein, dass ein erwachsener Mann seine gesamte Breite mit beiden Armen greifen konnte, und die Front reichte gerade für eineschmale Tür und ein winziges Fenster. Da es nur zwei Stockwerke und ein recht flaches Dach hatte, konnte man, auch wenn man dicht davorstand, den oberen Teil der Stadtmauer sehen, die seine Rückwand bildete. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und ein lichtloser Vorratsraum, und über eine schmale, ausgetretene Treppe ging es in die Schlafkammer der Witwe, an die sich ein weiteres, ebenfalls fensterloses Kämmerchen

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