Die Pilgerin
schmächtig und hatte ein spitzes Gesicht, das Tilla an ein Wiesel erinnerte. Er sprach kaum etwas und schien keine Gemeinschaft mit den übrigen Gruppenmitgliedern zu suchen. Sie hatte sich schon gefragt, weshalb er sich auf diese Pilgerfahrt begeben hatte, und am Vorabend von der ewig neugierigen Hedwig erfahren, dass Peter nur deshalb ging, weil der Bürgermeister seiner Heimatstadt ihm reichen Lohn dafür versprochen hatte. Es ging um irgendein Gelübde, das erfüllt werden musste, und die Aussicht auf gutes Geld hatte den kleinen Mann dazu gebracht, sich als Stellvertreter auf den Weg zu machen.
Auch Manfred, ein vierschrötiger und irgendwie unfertig wirkender Mann, hatte sich für einen anderen auf die Reise begeben, der die Pilgerfahrt gelobt, aber selbst nicht den Mut aufgebracht hatte, sie auch anzutreten. Die Abneigung, die Tilla Manfred anfangs entgegengebracht hatte, war allerdings rasch gewichen, denn er hatte sich bereits am ersten Tag als hilfsbereiter Weggenosse entpuppt, den Hermann und Robert nach Strich und Faden ausnützten. Alles in allem war ihr der geistig leicht zurückgebliebene Manfred lieber als die anderen Männer der Gruppe, Ambros natürlich ausgenommen.
Der Letzte hieß Dieter, und ihn vermochte sie am wenigsten einzuordnen. Er war gebildet, versuchte aber, sich dies nicht anmerken zu lassen, und hielt ein wenig Abstand zu den anderen, ohne sich jedoch so stark abzuschotten wie Peter. Hedwig, die mit ihrer Fragerei selbst einen Stein zum Reden bringen konnte, hatte nichts über ihn in Erfahrung gebracht. Daher wusste Tilla nur, dass Vater Thomas und Dieter sich schon von früher kanntenund der jüngere Mann die Reise nicht zuletzt wegen ihres Pilgerführers angetreten hatte.
Ganz in Gedanken versunken stolperte Tilla und fiel hin. Für ein paar Augenblicke überlegte sie, ob es nicht besser wäre, einfach liegen zu bleiben. Dann aber war Manfred bei ihr und half ihr auf.
»Das war ein ganz böser Stein«, sagte er mit einem Seitenblick auf einen großen Kiesel, den Tilla übersehen hatte. Sie nickte und wollte das Kreuz aufheben.
»Das kann ich für dich tragen«, bot Manfred ihr an.
Doch Vater Thomas schüttelte den Kopf. »Otto ist dafür eingeteilt und er wird es tragen, bis wir Eberhardtszell erreicht haben.«
Am liebsten hätte Tilla ihm das schwere Kreuz vor die Füße geworfen, doch dann raffte sie sich wieder auf, schob den Lederfleck zurecht, der ihre Schulter nur sehr ungenügend schützte, und wankte weiter.
VII.
Am Abend dieses höllischen Tages lauerte bereits die nächste Herausforderung auf Tilla. Die Gruppe hatte das Kloster erreicht, bei dem sie übernachten wollten, und während sie auf die Suppe warteten, die die Mönche für Pilger kochten, entdeckten Ambros und Peter einen kleinen Teich.
»Kommt, lasst uns den Schweiß vom Körper waschen!«, rief der Goldschmied und eilte los. Die anderen folgten ihm und streiften sich noch im Laufen die Kleider vom Leib. Auch Hedwig und die beiden anderen Frauen schämten sich nicht, sich bis aufs Hemd auszuziehen und in das kühle Nass zu steigen.
Nur Tilla stand noch auf festem Boden und glaubte, der Schlag hätte sie gerührt. Wenn sie sich jetzt auszog, war ihr Geschlecht aufgedeckt, weigerte sie sich aber, würde sie ebenso Verdacht erregen. Noch während sie verzweifelt überlegte, was sie tun sollte, winkte Vater Thomas ihr zu.
»Komm, Otto! Das Wasser ist herrlich kühl und wird dir nach dem heißen Tag guttun.«
Tillas Körper lechzte nach einer Erfrischung, doch ihr Verstand war wie gelähmt. Es ist am besten, ich bekenne, was ich bin, und nehme die Strafe auf mich, die Vater Thomas mir auferlegen wird. Sie wollte ihren Vorsatz gerade in die Tat umsetzen, als es plötzlich Aufschub gab.
Ein Mönch kam vom Kloster her auf den Teich zu, blieb am Ufer stehen und sprach den Anführer der Gruppe an. »Vater Thomas! Verzeih, wenn ich dich störe, aber eben haben Gäste das Kloster aufgesucht, die auf der Suche nach einer verwirrten Frau sind. Sie nehmen an, das Weib habe sich auf den Weg nach Santiago gemacht, und bitten daher alle Pilgerführer, die auf dem Weg dorthin sind, um Hilfe, diese Frau zu finden. Wenn Ihr so gut sein wollt, mit ihnen zu sprechen.«
Tilla musste Hedwig nur ansehen, um zu erkennen, wie deren Gedanken flogen. Auch Vater Thomas streifte sie mit einem nachdenklichen Blick und runzelte die Stirn. Er schien etwas sagen zu wollen, hielt aber nach dem ersten Wort inne und wandte seine
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