Die Pilgerin
würde auch ein Schrimpp nachgeben müssen. Dabei ging es ihm nicht allein um die Führung in der Verschwörergruppe, sondern mehr noch um das, was danach kam.
»Ich habe ein wenig über unser weiteres Vorgehen nachgedacht, Herr von Kadelburg. Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch meine Vorschläge unterbreiten.«
»Ich bin begierig, sie zu hören!« Kadelburg beugte sich interessiert vor und lauschte. Das eine oder andere Mal blickte er erstaunt auf und stellte Fragen, die Otfried jedoch stets zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte. Zuletzt stand er erregt auf und klopfte seinem Gast auf die Schulter. »Du bist ein Mann ganz nach meinem Sinn, Willinger. An dieser Stelle will ich nicht verhehlen, dass mir dein Schwager manchmal etwas zu zögerlich erschien.«
»Zögerlich?« Otfried lachte auf. »Bei Gott, das bin ich gewiss nicht!«
Mir bleibt auch nichts anderes übrig, wenn ich meinen Kopf behalten will, setzte er den Satz in Gedanken fort. Solange Tilla mit Gürtlers Urkunden unterwegs war, lief er jederzeit Gefahr, dass ihr jemand die Schatulle abnahm und die Verschwörung aufdeckte. Darum hieß es rasch handeln. Als er am nächsten Morgen von Kadelburg schied, um nach Tremmlingen zurückzukehren, waren die nächsten Schritte beschlossene Sache.
VI.
Es gab Tage, an denen Tilla ihren Entschluss, nach Santiago zu pilgern, bitter bereute. Dieser war einer davon. Zur Überraschung der anderen Pilger hatte Vater Thomas nicht Dieter, dereigentlich an der Reihe gewesen wäre, zum Kreuzträger bestimmt, sondern sie. Nun schleppte sie das schwere Ding hügelauf und hügelab über Stock und Stein, während ihr der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken rann. Sie glaubte schon, darunter zusammenbrechen zu müssen wie einst Unser Herr Jesus in Jerusalem. Ihr Hemd fühlte sich klebrig an, sie hätte gar zu gerne Ambros’ Angebot angenommen, ihre Jacke auszuziehen und sie ihn tragen zu lassen. Doch das durfte sie nicht riskieren, denn ihre Brüste waren zwar klein, würden sich aber dennoch unter dem nassen Kittel abzeichnen.
»Ich weiß, es ist heiß, aber das Kreuz drückt mich sonst zu sehr«, erklärte sie dem hilfsbereiten Goldschmied und biss die Zähne zusammen. Gleichzeitig verfluchte sie ihr Täuschungsspiel. Hedwig, Anna und Renata mussten nur ihre eigenen Bündel schleppen, denn den Frauen blieb das schwere Kreuz erspart. Sie hingegen schwankte unter der Last und musste beinahe bei jedem Atemzug dagegen ankämpfen, sie zu Boden fallen zu lassen und sich gleich mit dazu.
»In der Schreibstube setzt man halt keine Muskeln an, Kleiner!«, rief Hermann ihr zu.
Der ist gerade der Richtige, mich zu verspotten, dachte Tilla, denn bei der ersten und noch recht kurzen Etappe vor zwei Tagen hatte er sich aufgeführt, als würde die Last des Kreuzes ihm das Rückgrat brechen. Ganz so weinerlich wie er stellte sie sich nun doch nicht an, und sie hoffte, auch am Abend nicht schlechter dazustehen als dieser Mann. Leider war es noch nicht einmal Mittag und ihre rechte Schulter fühlte sich bereits an, als wären das Schlüsselbein und sämtliche Knochen darum herum durchgescheuert.
Ächzend wuchtete Tilla sich das Kreuz auf die linke Schulter und stapfte weiter. Während ihr Mund das Gebet sprach, das Vater Thomas eben anstimmte, wanderten ihre Gedanken zuHedwig. Die Frau hatte sie bereits am ersten Abend seltsam gemustert und sie den gestrigen Tag nicht aus den Augen gelassen. Jetzt trug sie einen Ausdruck auf den Lippen, als amüsiere sie sich heimlich.
Tilla fragte sich, ob Hedwig wohl hinter ihr Geheimnis gekommen war. Dabei hatte sie alles getan, um nicht durchschaut zu werden. Um zu beweisen, dass sie wirklich ein Mann war, hatte sie sogar einmal im Stehen Wasser gelassen und auch sonst Acht gegeben, dass niemand Verdacht schöpfen konnte.
Hedwigs Haltung war ihr ein Rätsel, aber auch ein Ansporn, noch besser aufzupassen. Eine andere Frau mochte unter dem schweren Kreuz zusammenbrechen, doch sie würde es notfalls bis nach Santiago tragen. Die Wut, die sich in Tilla breitmachte, gab ihr die Kraft und die Ausdauer, die sie benötigte, um den Tag durchzustehen. Dörfer, Felder und Wälder zogen wie in einem Traum an ihr vorbei, und es gab kaum eine Chance, das Kreuz einmal abzusetzen, denn Vater Thomas vergönnte ihnen nur selten eine Rast. Anhalten durften sie nur vor Bildstöcken und Wegkreuzen, um ein Gebet zu sprechen, so wie es vor ihnen schon unzählige Santiago-Pilger und andere Wallfahrer getan
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