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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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hatten.
    Im Lauf des Nachmittags kam es Tilla so vor, als wolle ihr Führer erkunden, welche Strapazen seine Begleiter auszuhalten vermochten. Dem hochgewachsenen und doch feingliedrigen Goldschmied Ambros war keinerlei Anstrengung anzusehen, und vier der anderen Männer zeigten ebenfalls kaum Ermattung. Nur Hermann und Robert, die Kreuzträger der beiden ersten Tage, jammerten wie kleine Kinder. Tilla konnte sich vorstellen, dass vor allem Letzterem sämtliche Knochen wehtaten, aber sie empfand kein Mitleid, denn ihr würde es am nächsten Tag nicht anders ergehen. Doch im Gegensatz zu den beiden wollte sie sich nichts anmerken lassen.
    Als Vater Thomas nach dem Halt bei einer kleinen Kapelle das Zeichen zum Aufbruch gab, wuchtete Tilla das Kreuz hoch und war noch vor ihm auf dem Weg.
    »Brav, Bruder Otto! An dir könnten sich einige in unserer Gruppe ein Beispiel nehmen.« Der Blick des Pilgerführers streifte Robert und Hermann, die nur unter Ächzen und Stöhnen wieder auf die Beine kamen.
    »Otto hält sich wirklich gut!« In Hedwigs Stimme schwang ein Hauch Bewunderung, auch wenn sie den Namen Otto etwas eigenartig betonte. Sie trat nun an Tillas Seite und brach ein Stück von dem Laib Käse, den sie unterwegs erstanden hatte, und steckte es ihr in den Mund.
    »Du wirst sehen, das gibt Kraft!«
    Tilla wollte schon Danke sagen, als die Hand der Frau an ihrem Oberkörper nach unten glitt und für einen kurzen Augenblick auf ihren Brüsten stehen blieb. Obwohl neben Hemd und Kittel auch der dicke Jackenstoff die beiden verräterischen Merkmale verhüllte, sog Tilla erschrocken die Luft ein.
    Hedwig bemerkte es und lächelte überlegen. »Ich glaube, wir beide müssen uns heute Abend unter vier Augen unterhalten.« Der Teufel soll dich holen, fuhr es Tilla durch den Kopf, und für ein, zwei Herzschläge überlegte sie, die Frau gleich selbst auf die Reise zum Höllenfürsten zu schicken. Doch dafür hätte sie das Kreuz auf Hedwigs Schädel niedersausen lassen müssen und davor schreckte sie dann doch zurück. Sie hielt es jedoch für ein gutes Zeichen, dass Hedwig sie nicht gleich an die übrigen Mitglieder der Gruppe verriet, sondern erst mit ihr reden wollte. Doch was würde sie von ihr verlangen? Geld, um sich ihr Schweigen zu erkaufen? So hätte sie die freundliche Frau eigentlich nicht eingeschätzt.
    Auf dem weiteren Weg fiel es Tilla zunehmend schwerer, dasKreuz zu tragen. Der trotzige Mut des Vormittags war verflogen und Verzweiflung machte sich in ihr breit. Sie hätte sich nicht darauf einlassen sollen, in einer Gruppe zu reisen, sondern alleine gehen müssen. Allerdings musste sie sich nach der Erfahrung der ersten Tage eingestehen, dass dies nicht möglich gewesen wäre. Freiwillig reiste niemand allein, denn nur eine Gruppe versprach Schutz gegen Räuber, betrügerische Wirte und die anderen, vielfältigen Gefahren, die einem begegnen mochten. Zudem hätte sie nicht gewusst, wo Pilgerherbergen zu finden waren und wie man sich dort zu benehmen hatte. Auch konnte ein Alleinreisender, der unterwegs krank wurde, seine Seele nur noch dem Herrn empfehlen, während er in der Gruppe auf Hilfe und Pflege hoffen durfte. Wie Tilla es auch drehen und wenden mochte: nur der Schutz einer Pilgergruppe bot ihr die Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen. Wenn Vater Thomas sie ausschließen sollte, würde sie sich eine andere Pilgergemeinschaft suchen müssen. Aber dann musste sie sich vorher von allen unbemerkt in eine Frau zurückverwandeln oder noch stärker aufpassen, damit niemand ihr wahres Geschlecht durchschaute. Eine Frau konnte für das Tragen von Männerkleidern sehr hart bestraft werden.
    Um sich von ihren düsteren Gedanken zu lösen, die sich immer wieder um ihr Täuschungsspiel und die Gefahren drehten, die sie unterwegs bedrohten, versuchte sie, die restlichen Mitglieder der Gruppe einzuschätzen. Sepp war ihr als Einziger herzlich unsympathisch. Der mittelgroße, breit gebaute Mann mit einem runden, fast kahlen Schädel und kleinen, misstrauisch blickenden Augen hatte sich, wie es hieß, nicht freiwillig auf den Weg nach Santiago gemacht, sondern war wegen irgendeines Vergehens oder einer großen Sünde dazu verurteilt worden. Tilla wäre es lieber gewesen, Vater Thomas hätte ihn nicht in seine Gruppeaufgenommen, denn der Mann machte ihr mit seinen derben Reden und seinem ganzen Verhalten Angst.
    Auch Peter zählte nicht gerade zu den angenehmen Reisegefährten. Im Gegensatz zu Sepp war er klein und

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