Die Pilgerin
müssen. Während Tilla vor Angst beinahe verging, ließ Anton Schrimpp sich einen weiteren Becher Wein reichen und trank ihn in einemZug leer. »So ein Ritt macht durstig«, erklärte er grinsend und hielt dem Mönch, der eigentlich jedem Pilger nur einen Becher einschenken hätte sollen, fordernd sein Gefäß hin. Da Anton jedoch schon mehrere Becher getrunken hatte, zögerte der Mönch. Einer seiner höherrangigen Mitbrüder bedeutete ihm jedoch, dem Gast zu willfahren. Während das Kloster bei den meisten Pilgern auf nicht viel mehr als ein »Vergelts Gott« für ihre Gastfreiheit hoffen konnten, war von Männern wie diesen beiden Reitern blankes Gold zu erwarten.
»Es hat also keiner dieses verdammte Weibsstück gesehen!« Der Wein löste Anton Schrimpps Zunge und er ließ seinen Ärger deutlich heraushängen, dass sie seit ihrer Abreise aus Tremmlingen nicht die geringste Spur der Gesuchten gefunden hatten,
Rigobert lächelte etwas verkrampft, denn er hatte dem Mönch an der Pforte von einer lieben Verwandten erzählt, deren Geist durch vielfältige Schicksalsschläge gelitten hätte. »Verzeiht meinem Begleiter seine unbesonnenen Worte, aber es ist auch zum Haareausraufen. Wir wissen kaum mehr, wie wir die arme Tilla vor sich selbst schützen können. Einmal wollte sie sich sogar ins Wasser stürzen und konnte erst im letzten Augenblick gerettet werden. Jetzt hat sie der Wahn ergriffen, zum Grabe des heiligen Apostels pilgern zu müssen.«
Der Führer einer Pilgergruppe, die aus Santiago zurückkehrte, hob mahnend den Zeigefinger. »Vielleicht ist es gar kein Wahn! Es mag durchaus sein, dass der Heilige ihr diese Vision schickte, um sie zu rufen, damit sie beim Gebet an seinem Grab Heilung findet.«
Mehrere der Kleriker, die sich um Schrimpp und Rigobert versammelt hatten, nickten beifällig, und einer hob die Hände zum Himmel. »So wird es sein! Die Wege des Herrn erscheinen unsMenschen oft sonderbar und doch führen sie stets auf wundersame Weise zum Ziel.«
Vater Thomas musterte die beiden Suchenden genauer, und er konnte nicht behaupten, dass sie ihm gefielen. Der Jüngere wirkte verschlagen, während sein weinfreudiger Begleiter immer wieder betonte, dass er ein enger Vertrauter ihres Bruders sei und Tilla unbedingt zurückbringen müsse.
Der Verstand sagte dem Pilgerführer, dass es besser wäre, das schamlose Weib, welches Männerkleidung angelegt hatte, um die Welt zu täuschen, den Boten ihres Bruders zu übergeben und es zu vergessen. Doch er erinnerte sich daran, wie die junge Frau an diesem Tag unter der Last des Kreuzes gewankt hatte, so wie es auch von Unserem Herrn Jesus Christus berichtet wurde. Nicht Verrücktheit, sondern nur ein fester Wille und die Hilfe Gottes konnten ihr die Kraft dazu verliehen haben, dessen war Vater Thomas sich sicher.
»Berichtet doch bitte, wie die Frau aussieht, die ihr sucht. Dann können wir auf unserem weiteren Weg die Augen offen halten und sie erkennen, wenn sie uns begegnet.« Vater Thomas’ Aufforderung beinhaltete bereits den halben Willen, Tilla nicht auszuliefern. Die Beschreibung, die Rigobert jetzt von sich gab, festigte diesen Entschluss. Gürtlers Neffe versuchte zwar in liebenswürdigen Worten von Tilla zu sprechen, einige seiner Bemerkungen verrieten jedoch, wie sehr er die junge Frau verabscheute.
»Ich danke dir, mein Sohn, doch nun muss ich zu meinen Schäflein zurück.« Vater Thomas nickte Rigobert und Anton kurz zu und vollzog eine segnende Geste, dann wandte er ihnen den Rücken zu und suchte die Stelle, an der seine Gruppe saß. Es dauerte seine Zeit, bis er sich durch die essenden Pilger gezwängt hatte, und nur die Autorität seiner Kutte und des großen,hölzernen Kruzifixes auf seiner Brust verhinderten, dass die sich gestört fühlenden Leute laut und grob wurden.
Am richtigen Tisch angekommen, reichte Tilla ihm mit einem ängstlichen Blick die Schüssel. Vater Thomas zog seinen Löffel aus dem Futteral an seinem Gürtel, leckte ihn kurz ab und begann zu essen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Anton Schrimpp sich noch einmal einschenken ließ und dann mit Rigobert zusammen auf den Trakt des Klosters zuging, der für höher gestellte Gäste vorgesehen war. Er fragte sich, was das für ein Bruder war, der seiner Schwester solche Leute nachgeschickt hatte. Die Männer wirkten wie Jäger, die ein ganz spezielles Wild einfangen und gebunden nach Hause schleppen wollten, nicht aber wie liebevolle Freunde oder Verwandte, die die
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