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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Nacht dämmerte bereits herauf, und es wimmelte hier von Menschen. Die meisten waren von Ulm gekommen, um weiter nach Konstanz, Einsiedeln oder gar nach Santiago zu pilgern, aber es gab auch etliche Wallfahrer, die von jenen Zielen zurückkehrten. Die Pilger, die auf ihren Hüten oder an ihren Pelerinen die Muschel des heiligen Jakobus trugen, wurden beinahe wie Heilige verehrt und von den Mönchen als Erste bedient.
    Die Gruppe von Vater Thomas saß auf einer Bank unter freiem Himmel und wartete auf die Suppe und das Brot, welches die Mönche nun nach und nach verteilten. Anna entdeckte Tilla und Hedwig und winkte ihnen zu.
    »Es ist besser, wir setzen uns, sonst fällst du noch auf«, raunte Hedwig Tilla zu und schob sie auf die anderen zu. Tilla ließ sich vorwärts treiben, hielt aber gleichzeitig nach ihrem Bruder Ausschau. Eine neue Hoffnung war in ihren Gedanken aufgeglimmt. Vielleicht hatte Otfried sich besonnen und sah ein, dass er ungesäumt zum Grab des Apostels weiterziehen musste, auch umselbst Vergebung all seiner Sünden zu erlangen. Wenn er ihr das versprach, würde sie sich seinem Willen beugen und nach Hause zurückkehren.
    Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, das würde sie nicht tun, denn sie wollte das Herz des Vaters nicht ausgerechnet demjenigen ausliefern, der ihn ermordet hatte. Sie versuchte, ihren Zorn auf Otfried zu dämpfen, indem sie sich sagte, dass es auch anders gewesen sein konnte. Vielleicht war er bei Vater gewesen, als dieser starb und sich im Todeskampf in Otfrieds Wams verkrallt hatte. Aber in diesem Fall hätte ihr Bruder keinen Grund gehabt, so zu tun, als hätte er den Vater genesend und bei vollem Bewusstsein verlassen. Er war ein Mörder, und so Gott im Himmel und der heilige Jakobus ihr halfen, würde sie sein Verbrechen ans Tageslicht bringen.
    Bei dem Gedanken kochte sie innerlich so vor Wut, dass sie Otfried sein Verbrechen am liebsten auf der Stelle ins Gesicht geschleudert hätte. Doch ihr Bruder war nirgends zu sehen. Dafür entdeckte sie zwei Knechte, die ihr bekannt waren. Einer stammte aus ihrem Elternhaus und hatte sich ihrem Bruder bereits angedient, als ihr Vater noch gelebt hatte, in der Hoffnung, später bei ihm aufsteigen zu können, und der Zweite gehörte zum Gesinde des Gürtler-Anwesens. Bei beiden wunderte es sie nicht, dass sie ihren Bruder mit auf eine lange und beschwerliche Reise begleiteten.
    Dann aber entdeckte sie die beiden Männer, zu denen die Knechte gehörten. Verblüfft stieß sie die Luft aus, denn sie hätte nicht erwartet, Rigobert Böhdinger, den unsäglichen Neffen ihres toten Mannes, und den Ratsherrnsohn Anton Schrimpp hier auftauchen zu sehen.
    Enttäuscht setzte sie sich so, dass sie den beiden Männern den Rücken zukehrte, um von ihnen nicht durch einen dummenZufall erkannt zu werden, und hielt sich an dem Becher fest, den ihr ein Mönch mit Wasser und ein wenig saurem Wein gefüllt hatte. Also war sie ihrem Bruder nicht einmal so viel wert, dass er selbst nach ihr suchte. Rigobert traute sie zu, ihr heimlich den Hals umzudrehen, und Anton stand in einem üblen Ruf als Trunkenbold. Wollte ihr Bruder sie vielleicht mit Letzterem verheiraten, um ein Bündnis mit dem Ratsherrn Schrimpp einzugehen? In dem Fall wäre Antons Bruder Mauriz jedoch die bessere Wahl gewesen. Oder hatte man sich für den jüngeren Sohn entschieden, weil sie nach dem überraschend schnellen Tod Veit Gürtlers nicht gerade als willkommene Schwiegertochter galt?
    Dieses Rätsel würde sie nur lösen können, wenn sie sich den beiden zu erkennen gab. Dazu aber durfte sie sich auf keinen Fall verleiten lassen. Ohne Rigobert und den jüngeren Schrimpp aus den Augen zu lassen, nahm sie die Tonschale mit dem Eintopf entgegen, in dem neben Gemüse auch ein wenig Fisch schwamm, und griff nach einem der Brotstücke, die ein anderer Mönch aus einem großen Korb verteilte,
    »Wir brauchen noch Brot und Suppe für unseren ehrwürdigen Pilgerführer!«, sagte Ambros neben ihr.
    Erst bei den Worten des Goldschmieds fiel Tilla auf, dass Vater Thomas sich noch nicht bei ihnen eingefunden hatte. Sie hielt nach ihm Ausschau und sah, dass er sich durch die Gruppe der Mönche und der anderen Pilgerführer drängte, die Rigobert und Anton Schrimpp umringten, und diese ansprach. Jetzt verrät er mich, fuhr es ihr durch den Kopf, und sie sah sich nach einem Fluchtweg um. Die Pilger saßen jetzt jedoch so dicht beieinander, dass sie sich mit Gewalt hätte durchzwängen

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