Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
ist, als würde ich einen Bahnhof bauen.«
»Inwiefern?«
»Ganz einfach. Ohne Bahnhof kann kein Zug halten. Also muss ich einen Bahnhof entwerfen und ihm dann eine konkrete Farbe und Form geben. Das kommt als Erstes. Und selbst wenn ich einen Fehler mache, kann ich ihn hinterher noch korrigieren. Damit kenne ich mich nämlich aus.«
»Schließlich bist du ein ausgezeichneter Ingenieur.«
»Das wäre ich gern.«
»Und du wirst fleißig Tag und Nacht einen ganz besonderen Bahnhof für mich bauen, ja?«
»Genau«, sagte Tsukuru. »Denn ich liebe dich von ganzem Herzen und will mit dir zusammen sein.«
»Ich liebe dich auch sehr. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, gefällst du mir besser«, sagte Sara. Sie machte eine kleine Pause, wie einen Absatz. »Aber es ist jetzt vier Uhr morgens, selbst die Vögel schlafen noch. Ich kann nicht behaupten, dass mein Verstand richtig funktioniert. Tust du mir also den Gefallen und wartest noch drei Tage?«
»Gut, aber nur drei Tage«, sagte Tsukuru. »Länger kann ich es nicht aushalten. Deshalb habe ich dich ja um diese Zeit angerufen.«
»Drei Tage genügen, Tsukuru. Baustellentermine muss man einhalten. Wir sehen uns am Mittwochabend.«
»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.«
»Macht nichts. Es hat mich gefreut, einmal zu erleben, dass die Zeit auch um vier Uhr morgens normal vergeht. Ist es schon hell draußen?«
»Nein, noch nicht. Aber es dauert nicht mehr lange. Die Vögel fangen an zu zwitschern.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm, so heißt es ja.«
»Ja, theoretisch.«
»Davon werde ich mich nie selbst überzeugen können.«
»Gute Nacht«, sagte er.
»Du, Tsukuru?«, sagte Sara.
»Hm?«
»Gute Nacht«, sagte Sara. »Sei ganz ruhig und schlaf gut.«
Und sie legten auf.
19
Der Bahnhof Shinjuku ist riesig. Pro Tag passieren ihn 3,5 Millionen Menschen. Im Guinness-Buch der Rekorde ist er offiziell als Bahnhof mit den meisten Fahrgästen der Welt verzeichnet. Auf ihm treffen eine Menge verschiedene Bahnlinien zusammen. Die wichtigsten sind Chuo, Sobu, Yamanote, Saikyo, Shonan-Shinjuku und der Express zum Flughafen Narita. Sie gehören Japan Railways. Das komplizierte Geflecht ihrer Schienenstränge allein verfügt über sechzehn Bahnsteige. Zusätzlich in dieses Streckennetz integriert sind die Linien zweier privater Eisenbahngesellschaften – Odawara und Keio – sowie drei U-Bahn-Linien. Ein wahres Labyrinth. In den Stoßzeiten verwandelt sich dieses Labyrinth in ein wogendes Menschenmeer. Es schäumt, überschlägt sich, tost und flutet die Ein- und Ausgänge. Der Strom der Menschen, die hier umsteigen, wallt hierhin und dorthin und bildet gefährliche Strudel. Keinem noch so mächtigen Propheten würde es gelingen, diese wild brandenden Wogen zu teilen.
Es ist kaum zu glauben, dass diese überwältigende Masse an fünf Tagen in der Woche, jeweils morgens und abends, von einer eher unzureichenden Zahl an Bahnbeamten ohne besondere Zwischenfälle abgefertigt wird. Vor allem der morgendliche Berufsverkehr ist problematisch. Jeder hat es eilig, zum Ziel zu kommen. Die Stechuhren müssen bis zu einer bestimmten Zeit betätigt werden. Kein Grund zu guter Laune. Man ist noch immer etwas schläfrig. Und die vollgepackten Waggons rütteln Leib und Seele so richtig durch. Nur die Glücklichsten ergattern einen Sitzplatz.
Es beeindruckte Tsukuru stets aufs Neue, dass es so gut wie nie zu Gewalttätigkeiten oder blutigen Unfällen kam. Sollte dieser überfüllte Bahnhof Angriffsziel fanatischer Terroristen werden, wäre die Katastrophe unabsehbar. Die Schäden wären verheerend. Ein unvorstellbarer Albtraum für die Bahnbeamten wie für Polizei und Fahrgäste. Dennoch gab es bis heute keine Methode, um eine solche Katastrophe zu verhindern. Obwohl dieser Albtraum im Frühjahr 1995 schon einmal Wirklichkeit geworden war.
Ständig ertönen laute Durchsagen, unablässig schrillen die Signalglocken der abfahrenden Züge, und automatische Fahrkartensperren lesen zahllose Informationen auf Geldkarten, Fahrscheinen und Monatskarten. Geduldig wie dressierte Haustiere spucken die im Sekundentakt an- und abfahrenden Züge ihre Fahrgäste aus und nehmen neue auf, schließen die Türen und eilen beflissen dem nächsten Bahnhof entgegen. Es ist unmöglich, beim Hinauf- oder Hinabsteigen einer Treppe in der Mitte kehrtzumachen, auch wenn einem jemand im Getümmel auf die Ferse tritt und man einen Schuh verliert. Der Schuh wird wie von Treibsand verschluckt und
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