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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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unterhielt sich leise und beglückt. Zwei schläfrige kleine Jungen von fünf oder sechs Jahren, offenbar Zwillinge, wurden eilig von ihren Eltern an Tsukuru vorbeigezogen. Jeder von ihnen hielt eine kleine portable Spielkonsole in der Hand. Zwei junge Ausländer mit schweren Rucksäcken gingen vorüber und eine junge Frau mit einem schönen Profil, die einen Cellokasten trug. Sie alle stiegen in den Nachtexpress und fuhren weit fort. Tsukuru beneidete sie ein wenig. Denn sie hatten zumindest vorläufig ein Ziel.
    Er hatte keinen Ort, an den es ihn zog.
    Ihm fiel ein, dass er noch nie in Matsumoto, Kofu oder Shiojiri gewesen war. Ach was, nicht einmal bis Hachioji war er gekommen. Zahllose Züge nach Matsumoto hatte er auf diesem Bahnsteig abfahren sehen, aber die Möglichkeit, dass er selbst in einen dieser Züge einsteigen könnte, war ihm niemals in den Sinn gekommen. Der Gedanke hatte ihn nicht einmal gestreift. Wie konnte das sein?
    Tsukuru stellte sich vor, dass er jetzt einfach so einsteigen und nach Matsumoto fahren könnte. Das war nicht unmöglich. Und gar keine so schlechte Idee. Er war ja auch ganz kurz entschlossen nach Finnland gereist. Er wollte nach Matsumoto fahren, also warum nicht? Was war das für eine Stadt? Wie lebten die Menschen dort? Doch gleich schüttelte er den Kopf und gab den Gedanken wieder auf. Es war ausgeschlossen, morgen früh rechtzeitig zur Arbeit wieder in Tokio zu sein. Dazu brauchte er nicht einmal in den Fahrplan zu schauen. Außerdem war er morgen Abend mit Sara verabredet. Es war ein wichtiger Tag für ihn. Er konnte auf keinen Fall nach Matsumoto fahren.
    Er trank seinen inzwischen lauwarmen Kaffee aus und warf den Pappbecher in einen nahen Abfalleimer. Tsukuru Tazaki hat kein besonderes Ziel. Das schien das Leitmotiv seines Lebens zu sein. Es gab keinen Ort, zu dem es ihn hinzog, und auch keinen, an den es ihn zurückzog. Einen solchen Ort hatte es nie gegeben, und es gab ihn auch jetzt nicht. Der einzige Ort für ihn war der, an dem er sich gerade befand.
    Eigentlich stimmt das nicht ganz, sagte er sich.
    Wenn er es sich recht überlegte, hatte er doch einmal in seinem Leben ein besonderes Ziel gehabt. In der Oberschule hatte er sich gewünscht, nach Tokio an die Technische Hochschule zu gehen, um sich auf die Konstruktion von Eisenbahnhöfen zu spezialisieren. Das war sein Ziel gewesen. Und dafür hatte er hart gearbeitet. »Bei deinen Noten ist es sehr unwahrscheinlich, dass du die Aufnahmeprüfung bestehst«, hatte sein Klassenlehrer ihm kalt verkündet. Aber Tsukuru hatte sich angestrengt und es irgendwie geschafft. Es war das erste Mal gewesen, dass er so viel gelernt hatte. Mit anderen um bessere Noten oder einen bestimmten Rang in der Klasse zu wetteifern, lag ihm nicht, aber als er ein konkretes Ziel vor Augen hatte, setzte er alles daran, es zu erreichen, und es gelang ihm auch. Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn gewesen. Das Ergebnis war, dass Tsukuru Nagoya verließ und allein in Tokio lebte. In der ersten Zeit hatten ihm seine Freunde sehr gefehlt, und er war immer nach Hause gefahren, sobald er konnte. Es hatte einen Ort gegeben, an den es ihn zurückzog. Sein Leben zwischen zwei Städten hatte etwas über ein Jahr angehalten. Bis es eines schönen Tages zerbrach.
    Seither hatte er keinen Ort gefunden, zu dem es ihn hin- oder an den es ihn zurückzog. Nagoya war noch immer sein Zuhause, er hatte dort sein Zimmer, und seine Mutter und seine ältere Schwester lebten dort. Die jüngere wohnte jetzt in der Innenstadt. Ein- oder zweimal im Jahr fuhr er pflichtgemäß dorthin und wurde jedes Mal herzlich aufgenommen, aber er hatte mit seiner Mutter und seinen Schwestern nichts zu reden, und er sehnte sich auch nicht danach, mit ihnen zusammen zu sein. Sie wollten, dass er der alte Tsukuru war, den er selbst doch längst als unnütz hinter sich gelassen hatte. Um ihn wieder zum Leben zu erwecken, war er gezwungen zu schauspielern. Auch Nagoya fühlte sich mittlerweile fremd und trostlos an. Es gab dort nichts mehr, das ihm fehlte oder an dem er hing.
    Nach Tokio hatte es ihn durch Zufall verschlagen. Einst hatte er dort studiert, und jetzt befand sich sein Arbeitsplatz dort. Es war eine rein berufliche Beziehung. Die Stadt an sich bedeutete ihm nichts. Tsukuru führte ein geregeltes und ruhiges Leben in Tokio. Wie ein Flüchtling, der sich in seiner neuen Heimat sehr vorsichtig verhält, um seiner Umgebung keine Schwierigkeiten zu bereiten, um niemandem zur

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