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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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für eine Sekunde von den Noten losreißen, bis das Stück zu Ende war. Obwohl niemand mehr zuhörte.
    In diesem Augenblick erwachte Tsukuru. Die grünen Zahlen der Digitaluhr an Kopfende seines Bettes zeigten zwei Uhr fünfunddreißig an. Er war schweißgebadet, und sein Herz klopfte noch immer heftig. Er stieg aus dem Bett, zog seinen Pyjama aus, rieb sich mit einem Handtuch trocken, zog ein frisches T-Shirt und frische Boxershorts an und setzte sich im Wohnzimmer aufs Sofa. Im Dunkeln sitzend dachte er an Sara. Er bereute jedes Wort, das er bei ihrem letzten Telefonat zu ihr gesagt hatte. Er hätte den Mann nicht erwähnen sollen.
    Am liebsten hätte er Sara sofort angerufen und das, was er gesagt hatte, zurückgenommen. Aber es war unmöglich, jemanden morgens um halb drei anzurufen, und noch unmöglicher, von ihm zu verlangen, etwas, das man ihm bereits gesagt hatte, vollständig zu vergessen. Vielleicht werde ich sie jetzt verlieren, dachte Tsukuru.
    Er dachte an Eri. Eri Kurono-Haatainen. Mutter von zwei kleinen Töchtern. Er dachte an den blauen See, der sich hinter dem Birkenwäldchen erstreckte, und an das Klappern des kleinen Bootes am Anlegesteg. An die schönen Muster auf ihrer Keramik, das Zwitschern der kleinen Vögel und das Bellen des Hundes. Und an die von Alfred Brendel so würdevoll gespielten Années de pèlerinage . An Eris vollen Busen an seiner Brust. An ihren warmen Atem und ihre tränennassen Wangen. An die vielen verpassten Möglichkeiten und die Zeit, die sich nicht mehr zurückholen ließ.
    Sie hatten am Tisch gesessen und dem Vogelgezwitscher vor dem Fenster gelauscht, ohne etwas zu sagen und ohne nach Worten zu suchen. Und immer wieder ertönte dieser eigentümliche Gesang der Vögel aus dem Wald.
    »Die Vogeleltern bringen den Kleinen das Zwitschern bei«, sagte Eri. Und lächelte. »Bevor ich hierherkam, wusste ich nicht, dass auch Vögel das Zwitschern erst lernen müssen.«
    Das Leben war wie eine schwierige Partitur, fand Tsukuru. Sechzehntelnoten und Zweiunddreißigstelnoten, seltsame Zeichen und kryptische Anmerkungen. Alles richtig zu lesen war eine Aufgabe, die beinahe unmöglich zu bewältigen war, und selbst wenn man alles richtig lesen und sogar in die richtigen Töne umwandeln konnte, hieß das noch lange nicht, dass man den Sinn verstanden hatte und anderen verständlich machen konnte. Ganz zu schweigen davon, jemanden glücklich zu machen. Warum musste das Leben so unendlich kompliziert sein?
    »Du musst um sie kämpfen, Tsukuru. Unter allen Umständen. Wenn du sie jetzt gehen lässt, wirst du vielleicht nie wieder eine Frau wie sie finden«, hatte Eri gesagt. »Dir fehlt gar nichts. Hab Mut und Selbstvertrauen. Das ist alles, was du brauchst.«
    Und lass dich nicht von den bösen Kobolden fangen.
    Er dachte an Sara. Vielleicht lag sie gerade in jemandes nackten Armen. Nein, nicht jemandes . Er sah den Mann genau vor sich. Und Saras glückliches Gesicht. Ihr Lachen, ihre schönen Zähne. Er schloss in der Dunkelheit die Augen und drückte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Mit diesem Gefühl kann ich nicht leben, dachte er. Und wenn es nur drei Tage sind.
    Tsukuru nahm den Hörer und drückte Saras Telefonnummer. Es war kurz vor vier. Nach dem zwölften Klingeln nahm sie ab.
    »Entschuldige tausend Mal, dass ich dich um diese Zeit anrufe«, sagte Tsukuru. »Aber ich muss unbedingt mit dir sprechen.«
    »Was heißt ›um diese Zeit‹? Wie spät ist es denn?«
    »Kurz vor vier Uhr morgens.«
    »Du meine Güte, das habe ich nicht gewusst«, sagte Sara. An ihrer Stimme war zu hören, dass sie noch nicht ganz wach war. »Ist jemand gestorben?«
    »Nein«, sagte Tsukuru. »Noch nicht. Aber ich muss es dir unbedingt heute Nacht sagen.«
    »Und was bitte?«
    »Ich liebe dich von ganzem Herzen, und ich begehre dich.«
    Am anderen Ende der Leitung ertönte ein Rascheln, als suche sie etwas. Dann räusperte sie sich leise und stieß einen Seufzer aus.
    »Kannst du sprechen?«, fragte Tsukuru.
    »Natürlich«, sagte Sara. »Immerhin ist es noch vor vier Uhr morgens. Du kannst mir alles sagen, was du willst. Niemand wird uns belauschen, alle anderen liegen in tiefem Schlaf.«
    »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, wiederholte Tsukuru.
    »Und um mir das zu sagen, rufst du mich um vier Uhr morgens an?«
    »So ist es.«
    »Hast du getrunken?«
    »Nein, ich bin völlig nüchtern.«
    »Aha«, sagte Sara. »Für einen Naturwissenschaftler bist du sehr leidenschaftlich, oder?«
    »Es

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