Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Besonderheiten des Gebäudes, dem Verhalten der Fahrgäste und der Bahnbeamten beschäftigt und sich alles notiert, was ihm auffiel, aber so weit ging es jetzt natürlich nicht mehr.
Der Express fuhr mit verminderter Geschwindigkeit in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich, und die Fahrgäste stiegen aus. Allein dieser Anblick erfüllte ihn mit Befriedigung und Heiterkeit. Er war stolz, dass der Zug pünktlich auf die Minute eintraf, obwohl es kein Zug der Firma war, für die er arbeitete. Es war ein ruhiger, bescheidener Stolz. Rasch bestieg die Putzkolonne den Zug, sammelte allen Abfall ein und reinigte die Sitze. Neue Schaffner in Mütze und Uniform übernahmen ihre Schicht und bereiteten alles für die nächste Abfahrt vor. Sie wechselten die Schilder mit dem Zielort an den Waggons aus und gaben dem Zug eine neue Nummer. All das ging innerhalb weniger Sekunden ohne überflüssigen Aufwand und völlig reibungslos vonstatten. Das war Tsukuru Tazakis Welt.
Auf dem Bahnhof in Helsinki hatte er das Gleiche getan: einen einfachen Fahrplan gekauft, sich auf eine Bank gesetzt und mit einem Pappbecher Kaffee die ankommenden und abfahrenden Langstreckenzüge beobachtet. Mittels seiner Landkarte hatte er festgestellt, woher sie kamen und wohin sie fuhren. Er verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen ausstiegen und andere auf ihren jeweiligen Bahnsteig zueilten. Er beobachtete die uniformierten Beamten und ihre Gehilfen. Wie üblich versetzte ihn diese Beschäftigung in eine heitere Stimmung. Unmerklich und gleichförmig verstrich die Zeit. Alles war genauso wie auf dem Bahnhof Shinjuku, nur dass er die Durchsagen nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich unterschieden sich die Vorgänge auf Bahnhöfen auf der ganzen Welt nicht grundsätzlich voneinander. Es herrschten Professionalität, Präzision und Effizienz. Dieser Zustand rief ein natürliches Wohlempfinden in ihm hervor. Er fühlte sich definitiv am rechten Ort.
Als Tsukuru Tazaki am Dienstag seine Arbeit beendete, war es schon nach acht. Außer ihm war niemand mehr im Büro. Das Projekt, mit dem er beschäftigt war, war nicht so dringend, dass er Überstunden hätte machen müssen. Aber da er am Mittwochabend mit Sara verabredet war, wollte er einiges lieber vorher noch erledigen.
Nachdem er den Computer heruntergefahren hatte, schloss er wichtige Datenträger und Dokumente in die Schublade ein und schaltete das Licht aus. Er grüßte den Wachmann, den er vom Sehen kannte, und verließ die Firma durch den Hinterausgang.
»Einen schönen Abend noch«, sagte der Wachmann.
Er überlegte, ob er irgendwo etwas essen sollte, aber er hatte noch keinen Appetit. Direkt nach Hause gehen wollte er auch nicht. Also machte er sich zu den Bahnsteigen von Japan Railways in Shinjuku auf. Wie üblich kaufte er sich an einem Bahnhofsstand einen Becher Kaffee. Es war ein feuchtwarmer Abend, wie er für den Tokioter Sommer typisch ist, und der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter, dennoch zog er den dampfend heißen Kaffee einem kalten Getränk vor. Alles eine Frage der Gewohnheit.
Auf Gleis 9 waren die üblichen Vorbereitungen für die Abfahrt des letzten Express nach Matsumoto im Gange. Der Schaffner ging durch den Zug und überzeugte sich mit routiniertem, aber nicht nachlässigem Blick, ob alles in Ordnung war. Bei dem Zug handelte es sich um das vertraute Modell der Baureihe E 257. Er sah nicht so schnittig aus wie die Hochgeschwindigkeitszüge des Shinkansen, aber seine nüchterne, sachliche Form war Tsukuru sympathisch. Der Express fuhr bis Shiojiri auf der Hauptstrecke der Chuo-Linie und von dort nahm er die Shinonoi-Linie nach Matsumoto, wo er fünf Minuten vor Mitternacht eintraf. Er brauchte verhältnismäßig lange für die kurze Strecke, weil er nicht mit voller Geschwindigkeit fahren konnte. Bis Hachioji ging es durch Wohngebiete, wo Lärmschutzbestimmungen eingehalten werden mussten, und später war die Landschaft zu gebirgig und kurvenreich.
Es war noch ein wenig Zeit bis zur Abfahrt, aber die Reisenden versorgten sich hastig an den umliegenden Ständen mit Proviant, etwas zu knabbern, Dosenbier und Zeitschriften. Manche hatten die weißen Kopfhörer eines iPods im Ohr und waren ganz für sich in ihrer eigenen tragbaren kleinen Welt. Andere bedienten mit geschickten Fingern ihr Smartphone oder telefonierten laut, um die Durchsagen zu übertönen. Ein junges Paar, das gemeinsam zu verreisen schien, saß eng aneinandergeschmiegt auf einer Bank und
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