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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sagte sie gleich darauf in ruhigem Ton. »Das redest du dir nur ein.«
    »Wenn du das sagst, stimmt es wahrscheinlich. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen. Aber ich weiß, dass komplizierte Lebensumstände nichts für mich sind. Ich bin in zwischenmenschlichen Beziehungen schon mehrmals verletzt worden. Ich möchte nicht, dass das wieder passiert.«
    »Ich verstehe«, sagte Sara. »Da du so offen zu mir warst, will ich auch offen zu dir sein. Aber würdest du mir noch etwas Zeit geben?«
    »Wie lange?«
    »Ungefähr drei Tage? Heute ist Sonntag, ich glaube, am Mittwoch kann ich dir deine Frage beantworten. Hast du am Mittwochabend Zeit?«
    »Ja«, sagte Tsukuru. Er brauchte nicht in seinem Notizbuch nachzuschauen. Er hatte nie Pläne nach Feierabend.
    »Lass uns essen gehen. Und dabei über alles reden. Offen und ehrlich. Ist das in Ordnung?«
    »Ja«, sagte Tsukuru.
    Und sie legten auf.
    In jener Nacht hatte Tsukuru einen langen, seltsamen Traum. Er saß am Klavier und spielte eine Sonate. Es war ein großer, nagelneuer Flügel, die weißen Tasten waren blendend weiß und die schwarzen tiefschwarz. Auf dem Notenständer lag ein großes aufgeschlagenes Notenbuch. Eine Frau in einem engen, schwarzen Kleid stand neben ihm und blätterte mit langen, weißen Fingern geschickt die Noten für ihn um. Ihr Timing war sehr exakt. Ihr tiefschwarzes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Offenbar waren alle Dinge an diesem Ort in Abstufungen von Schwarz oder Weiß arrangiert. Andere Farben gab es nicht.
    Wer die Klaviersonate komponiert hatte, wusste er nicht. Jedenfalls war sie sehr lang. Das Notenheft war so dick wie ein Telefonbuch. Die Linien waren über und über mit Noten bedeckt, sie waren buchstäblich schwarz davon. Das Werk hatte einen komplizierten Aufbau und eine schwierige Melodie, die ein hohes Maß an Virtuosität erforderten. Außerdem sah er es zum ersten Mal. Dennoch erfasste Tsukuru auf den ersten Blick das Wesen der Welt, die sich darin verkörperte, und war in der Lage, es in Töne umzusetzen. Als würde er einen komplizierten Konstruktionsplan lesen. Er verfügte über diese außergewöhnliche Fähigkeit. Seine geübten Finger glitten wie der Wind von einem Ende der Tastatur zum anderen. Es war ein schwindelerregendes, atemraubendes Erlebnis, dieses Meer aus einer so gewaltigen Menge komplizierter Zeichen rascher und korrekter als jeder andere entschlüsseln und ihm zugleich eine Gestalt geben zu können. Bei seinem selbstvergessenen Spiel durchzischte die Inspiration seinen Körper wie ein Blitzschlag an einem Sommernachmittag. Ungeachtet ihres gewaltigen, Virtuosität erfordernden Aufbaus war die Musik außergewöhnlich schön und tiefgründig. Sie versinnbildlichte auf erhabene und nuancierte Weise verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens, die unmöglich durch etwas anderes als Musik auszudrücken waren. Er war stolz, dass er dieses Stück mit seinen eigenen Händen zu spielen vermochte. Unbändige Freude sandte ihm Schauer über den Rücken.
    Leider schien das Publikum nicht seiner Meinung zu sein. Die Zuhörer konnten nicht mehr still sitzen und wirkten gelangweilt und verärgert. Das Knarren der Stühle, auf denen sie rastlos hin und her rutschten, sowie ihr ständiges Räuspern drangen an sein Ohr. Wie war es möglich, dass diese Menschen den Wert der Musik nicht zu würdigen wussten?
    Er trat in einer Art Ballsaal in einem Palast auf. Der Boden war aus glänzendem Marmor, und die hohe Decke hatte ein schönes Oberlicht in der Mitte. Das Publikum saß auf prächtigen Stühlen. Es waren etwa fünfzig Personen, alle vornehme, elegant gekleidete Menschen und gewiss sehr kultiviert. Doch leider besaßen sie nicht die Fähigkeit, den außergewöhnlichen Charakter der Musik zu verstehen.
    Mit der Zeit nahm der Lärm immer mehr zu und wurde bald ohrenbetäubend. Er gewann so sehr an Raum, dass er die Musik übertönte. Tsukuru konnte sein eigenes Spiel nicht mehr verstehen. Alles, was er hörte, war ein ans Groteske grenzender, übersteigerter Krach aus Husten und unwilligem Gestöhne. Trotzdem las er weiter wie besessen die Noten, während seine Finger stürmisch über die Tasten eilten.
    Plötzlich sah er es. Die schwarz gekleidete Frau, die die Noten umblätterte, hatte sechs Finger. Der sechste war etwa so groß wie ein kleiner Finger. Ihm stockte der Atem, und sein Herz fing an zu rasen. Er wollte das Gesicht der Frau neben sich sehen. Wer war sie? Kannte er sie? Aber er konnte seinen Blick nicht

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